Sogar die Schalterreihe in der Kfz-Zulassungsstelle kommt hier groß heraus: Ein Filmteam um Nachwuchsregisseurin Marleen Valien dreht an verschiedenen Orten in Stuttgart.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

In Städten, die wie Paris und New York beliebte Filmkulissen bieten, sind Dreharbeiten an der Tagesordnung – und die Menschen dort entsprechend genervt von den Beeinträchtigungen, die sie mit sich bringen. In Stuttgart sind Begegnungen mit Filmteams eher rar. Folglich überwiegt die Freude über die Aufmerksamkeit für die Stadt, wie sie zum Beispiel zuletzt Joachim A. Lang in seinem Kinofilm „Cranko“ transportierte. Auch die Nachwuchsregisseurin Marleen Valien kommt ins Schwärmen, wenn sie über die in Stuttgart gefundenen Kulissen spricht. „Paradeisa“ lautet der Arbeitstitel des Spielfilms, mit dem sechs Studierende der in Ludwigsburg beheimateten Filmakademie Baden-Württemberg unter anderem bei Dreharbeiten in Stuttgart ihre Abschlussarbeit realisieren; insgesamt umfasst das Team rund 60 Filmtalente.

 
Marleen Valien Foto: imago/Ron Adar

Antreffen kann man es in den nächsten Tagen zum Beispiel im Heusteigviertel. „Ich war sehr begeistert von der Location dort und den Stuttgarter Altbauten, die werden im Film sehr schön aussehen“, sagt Marleen Valien. Der gebürtigen Berlinerin sind neben den warmen Farbtönen der Sandsteinfassaden die Durchgänge zwischen den einzelnen Häusern aufgefallen, die Schluchten in die Straßenzüge schneiden.

Ein Künstler setzt zu Lebzeiten auf posthumen Ruhm

In einer solchen Straße könnte die Wohnung der Filmfamilie um die zwölfjährige Lou liegen. Aufgebaut ist sie als etwas in die Jahre gekommenes Altbauheim im Albrecht-Ade-Studio der Filmakademie; das Zimmer des Mädchens und das ihres älteren Bruders finden sich ebenso darin wie das mit Leinwänden angefüllte Atelier von Künstlervater Edgar. Dessen Narzissmus, der in einem vorgetäuschten Tod und der Hoffnung auf posthumen Ruhm gipfelt, ist der Motor der von Marleen Valien mit dem Kameramann Max Rauer entwickelten Tragikomödie. Gedreht wird im Heusteigviertel am Vormittag in einem Kiosk; seine Filmbetreiberin und ihr Neffe sind wichtige Ansprechpartner für Lou. „Der Kiosk ist ein Wohlfühlort, an dem Lou ihren besten Freund Jamil kennenlernt, und ein Gegenpol zur Wohnung, der zum Ort der Täuschung mit eigenen Regeln wird“, gibt Marleen Valien Einblick in Drehbuch und -orte.

Ein Kiosk als Kulisse

Weitere Stationen des Filmteams in Stuttgart sind die Kfz-Zulassungsstelle, die Staatsgalerie und das Café Academie der schönsten Künste, das in „Paradeisa“ zum Edelrestaurant wird. „Hier feiert Lous Familie noch einmal schick und teuer, bevor der Vater aussteigt, eine Art letztes Abendmahl“, erläutert Marleen Valien mit einem Lachen den Höhepunkt der Filmstory, bei dem die Familie die Zeche prellen wird. Auch beim Dreh in der Staatsgalerie steht ein nicht legaler Akt im Fokus: In der Eröffnungsszene des Films „verbessert“ Lous Vater ein Exponat, während sie selbst zu einem eigenwilligen Ablenkungsmanöver greift.

Angst davor, mit einer wenig routinierten Kinderdarstellerin zu arbeiten, hatte Marleen Valien nie. „Rada Rae bringt für ihr Alter sehr viel Erfahrung mit und passt perfekt auf die Rolle. Ein Geschenk ist auch, mit welcher Begeisterung sie spielt“, lobt die Regisseurin. Die Eltern förderten das Schauspieltalent ihrer Tochter, erklärt Marleen Valien; so ermögliche eine Homeschooling-Lösung die Präsenz der aus Wien stammenden Elfjährigen an allen 30 Drehtagen.

Internationale Sichtbarkeit wird angestrebt

Inspiration für die Geschichte des Films war die Frage nach der Rollenverteilung in einer Familie. „Was heißt es, wenn die Eltern mehr Kinder sind als die eigentlichen Kinder“, fasst Marleen Valien die Ausgangsidee von „Paradeisa“ zusammen. Die Regisseurin bringt Erfahrung aus Kurzfilmen und Beiträgen für die ZDF-Sitcom-Serie „Späti“ mit. „Was bedeutet das für Lou, wenn sie sich um ihren Vater sorgen muss?“ Dieser Konflikt hat auch die Redaktion des ZDF-Formats „Das kleine Fernsehspiel“ überzeugt, der die Ludwigsburger Film-Azubis Stoffe für mögliche Abschlussfilme vorschlagen dürfen; im Zusammenspiel mit der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg können so in jedem Jahr zwei große Spielfilmprojekte realisiert werden.

Dafür, dass „Paradeisa“ und Stuttgart als Filmkulisse am Ende nicht nur auf einem Sendeplatz am späten Montagabend und in der ZDF-Mediathek zu finden sein werden, ist Tristan Schneider als studentischer Produzent mit an Bord. „Ziel ist es, internationale Sichtbarkeit für den Film zu bekommen“, sagt der Betriebswirtschaftler, der sich in Ludwigsburg in Sachen internationale Filmproduktion spezialisiert. Wichtige Filmfestivals hat er dafür im Sinn und nennt neben den großen Namen auch das für Debütfilme bekannte Festival in Rotterdam. Wer weiß, vielleicht kommt die lange Schalterreihe der Kfz-Zulassungsstelle zumindest international noch groß heraus.

Eine neue Sichtweise auf Geschichten

Person
Marleen Valien, 1995 in Berlin geboren, gab mit dem Kurzfilm „Hot Dog“ 2019 ihr Debüt als Regisseurin und Drehbuchautorin. Ihr 17-minütiger Aids-Film „Nicht die 80er“ erhielt 2022 den Publikumspreis des Filmfests Dresden. Ihre Kurzfilme waren auf internationalen Festivals auch in den USA zu sehen.

Projekt
Wird „Paradeisa“ nach der Fertigstellung 2026 ausgestrahlt, hat Marleen Valien seit der ersten Idee sechs Jahre mit dem Projekt verbracht. Fest steht für die 30-Jährige, die über ein Kommunikationsstudium zum Film kam, dass sie nach dem Diplom ihr Glück als freiberufliche Regisseurin finden will; zwei Projekte, darunter die Adaption eines Coming-of-Age-Romans, hat sie bereits sicher – und das Wissen, einen Traumjob gefunden zu haben: „Ich möchte Geschichten anders erzählen, sodass sie eine neue Sichtweise ermöglichen“, sagt die Noch-Studentin.

Ort
Die Filmakademie Baden-Württemberg wurde 1991 gegründet und bildet rund 500 Studierende in allen relevanten Berufsfeldern der Branche aus. Schwerpunkte liegen auf Animation, Visual Effects und digitaler Postproduktion.