Stuttgart entdeckt zaghaft seinen Fluss wieder. Anwohner machen sich via Facebook für mehr Freizeitangebote rund um den Neckar stark. Das birgt manchmal Konfliktpotenzial.

Bad Cannstatt, Hofen - An manchen Tagen glaubt Marion Heck, sie lebe im Paradies. Sie öffnet die Tür, die vom Wohnzimmer der Familie hinaus auf die Terrasse führt, blickt auf Akazien, Feigen und Nussbäume, durch die ein Eichhörnchen huscht, und sieht den Neckar in der Morgensonne. Marion Heck, 44, wohnt zwischen Cannstatt und Hofen, für sie gehören die Schiffe auf dem Neckar zum Alltag wie für viele andere Stuttgarter die Autos auf der Durchfahrtstraße vor der Haustür. Der Neckar ist ein Stiefkind der Stadt, oft vergessen und aus dem Bewusstsein vieler verschwunden. Marion Heck will dazu beitragen, dass sich daran etwas ändert.

 

Ihre Liebe zum Wasser wurzelt in ihrer Kindheit in einem Dorf im Badischen. „Ich weiß noch genau, wie ich in der Murg gebadet habe, wie sich die Steine im Fluss anfühlten, wie ich Frösche und Wasserschlangen sah. Es war ein großes Glück, so eine Kindheit gehabt zu haben.“ Aber es sind nicht nur romantische Erinnerungsbilder, die Marion Hecks Verhältnis zum Wasser prägten. Sie lebte später in Köln, „in Blickweite zum Fluss“, und dann in New York. Selbst in der Megacity „hat man das Wasser in der Stadt gespürt“.

Naturoasen mit Flachwasser und Schilf

In Stuttgart hingegen fließt das Leben in der Stadt und jenes am und auf dem Fluss oft aneinander vorbei. Es fehlen die Berührungspunkte, es fehlt das Gespür dafür, dass auf dem Neckar mehr als nur Frachtgut transportiert werden kann. Marion Heck will verknüpfen, was bisher nicht zueinandergefunden hat: „Neckarfreude Stuttgart“ heißt die von ihr gegründete Facebook-Seite, die im breiten Strom des Internets bislang nur ein Rinnsal ist. Aber eines, das bald größer werden könnte. Seit einiger Zeit bewegt sich etwas, wenn es um die Stadt am Fluss geht. Die Neckarfreude hat sich beim Bürgerhaushalt eingebracht und mehr Geld für die Umsetzung der Pläne eines „Landschaftsparks Neckar“ gefordert.

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Hinter diesem Schlagwort verbergen sich etliche Konzepte, die bereits vom Stuttgarter Stadtplanungsamt verfolgt werden, angereichert durch kreative Ideen aus der Bürgerschaft: Dabei geht es um Naturoasen mit Flachwasser und Schilf, um Spazierwege beim Travertinpark, um mehr Grün vor dem Wilhelma-Ufer oder um einen Bootsverleih mit Elektrobooten und historischen Kähnen in Cannstatt. Es ist ein buntes Sammelsurium an Ideen mit mehr oder weniger großen Realisierungschancen – aber die Resonanz auf die Vorschläge hat Marion Heck Mut gemacht: „Viele Stuttgarter wollen ihre Freizeit auch am Fluss genießen, sie haben meinen Antrag mit weiteren Vorschlägen unterstützt.“

Im Konflikt mit wirtschaftlichen Interessen

Inzwischen sind erste Ideen für mehr Neckarfreude verwirklicht worden – unmittelbar vor Marion Hecks Haustür: Die Hofener Straße, die direkt am Neckar entlangführt, vorbei an Steilhanglagen für Wein und an Steinbrüchen, wird seit Anfang Mai an Sonn- und Feiertagen für den Autoverkehr gesperrt. Jetzt haben Inliner und Fahrradfahrer, Wanderer und Jogger sonntags einen Teil der Uferseite für sich. Das Vorhaben ist keineswegs unumstritten. Vor allem die Winzer wehrten sich gegen die Sperrung, sie befürchteten, bei ihrer Arbeit behindert und von Sonntagsausflüglern beschimpft zu werden, wenn sie mit Ausnahmegenehmigungen dennoch unterwegs sind.

Inzwischen haben sich die Wogen geglättet. Marion Heck und andere Flussfreunde wurden vom Stadtplanungsamt eingeladen, um die Details über die Sperrung zu besprechen. „Wir wurden als Bürger optimal mit einbezogen, auch die Winzer und der Ruderclub waren eingeladen“, erzählt Heck, die als Wirtschaftsingenieurin bei einem Stuttgarter Verlag arbeitet. Dennoch zeigt die Debatte jene Konfliktlinie auf, die immer wieder erkennbar werden könnte, wenn es um eine stärkere Freizeitnutzung des Flusses geht: Wirtschaftliche Interessen prallen auf die Bedürfnisse der Städter, die Erholung suchen.

Wie ein Tag am Meer

So könnte es auch bei einem weiteren Projekt laufen, das sowohl die Bürger als auch die Stadtplaner auf die Liste der Verschönerungsprojekte gesetzt haben: Unterhalb des Muckensturms in Bad Cannstatt könnte der Sicherheitshafen geöffnet werden – auf der Halbinsel würden ein Biergarten und eine Ufertreppe Platz finden und Besucher anlocken. Doch noch steht dort das Gebäude des Wasser- und Schifffahrtsamts, das erst umziehen müsste, bevor sich das Gelände anderweitig nutzen ließe. Wie viel eine private Initiative bewirken kann, hat Marion Heck beim Max-Eyth-See gesehen, wo die Christoph-Sonntag-Stiftung Frischwasser in den See pumpte und im vergangenen Sommer Liegstühle am Ufer standen. „Dort die Füße ins Wasser zu strecken, das fühlte sich an wie ein Tag am Meer“, erinnert sich Marion Heck.

Ihre Facebook-Gruppe will sie unterdessen weiter vernetzen, um noch mehr Bürger und Firmen für den Erlebnisraum Neckar zu begeistern. „Bisher lief der Neckar unter ferner liefen bei der Stadt, das wundert mich.“ Dabei besitzt der Fluss das Potenzial, selbst New Yorker zu begeistern, wie Marion Heck erfahren hat, als sie mit amerikanischen Freunden eine Schlauchbootfahrt auf dem Fluss unternahm. Ihre Tochter war kürzlich rudern.

In Zukunft könnte der Neckar wieder die Kindheitserinnerungen von mehr Jungen und Mädchen aus der Großstadt mitprägen. In Stuttgart, der Stadt am Fluss.