Stuttgart: Ausstellung „Geschmackssache“ Schönheit liegt im Auge des Betrachters

Ist das Sparschwein (um 1900) schlechter Geschmack oder nicht? Foto: Landesmuseum Württemberg/Hendrik Zwietasch

Der Gefällt-mir-Button hat Hochkonjunktur. Eine Ausstellung über Geschmack im Landesmuseum Württemberg lässt Zweifel aufkommen an der eigenen Urteilsfähigkeit.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Es braucht nur Sekunden, und schon weiß man: Da hat jemand einen richtig schlechten Geschmack. Ob es Kleidung ist oder die Wohnungseinrichtung, ein kurzer Blick genügt, um ein Urteil zu fällen. Ist das Gefühl für Ästhetik angeboren? Nein. Geschmack – in jedem Fall guter – ist offenbar erlernbar. Davon war man zumindest im 19. Jahrhundert überzeugt. Deshalb entstanden in vielen Städten Gewerbemuseen, die den Menschen beibringen sollten, was ihnen zu gefallen hat – und was nicht. Auch in Stuttgart wurden „Vorbilder zur Geschmacksbildung“ gesammelt, um das Volk zu sensibilisieren.

 

Hässlich oder cool? Bierkrug in Form eines Rettichs

Der Bierkrug in Form eines Rettichs, auf dem auch noch ein Bismarck-Kopf zu sehen ist, zählte definitiv nicht zum „vorbildlichen Design“, das man den Menschen vor Augen führen wollte. Im Landesmuseum Württemberg sind nun einige Objekte ausgestellt, deren ästhetische Qualität von früheren Generationen bezweifelt wurde, die heute allerdings fast schon wieder Kulturstatus haben könnten – etwa das Sparschwein mit einer Ansicht des Alten Schlosses darauf.

Mit seinem Geschmack signalisiert man: Ich gehöre dazu

„Geschmackssache“ nennt sich die neue Ausstellung im Ständesaal, die „vorbildliches Design um 1900“ zeigt, dabei aber eigentlich viel mehr als das tut. Denn das, was die „Königliche Centralstelle für Gewerbe und Handel“ für vorbildlich hielt, macht auch bewusst, dass es beim Thema Geschmack um viel mehr als persönliche Vorlieben geht. Denn Geschmack spiegelt nicht nur Moden einzelner Epochen und Gruppen, sondern ist auch eine Eintrittskarte, um zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zu gehören – oder um sich von anderen abzugrenzen.

Michael Michalsky hat auch Besteck entworfen

Deshalb erfuhr das Thema Geschmack um 1800 plötzlich eine ganz neue Bedeutung, weil das Bürgertum nicht mehr blind dem glauben mochte, was der Adel für exquisit hielt, sondern nun sein eigenes Urteil fällen wollte. Schon die verschiedenen Bestecke machen deutlich, dass persönliche Vorlieben weniger individuell sind, als man glauben mag. Im 18. Jahrhundert hielt man Messer und Gabel für schön, die einen Griff aus rotem Marmor hatten oder bemalt waren. Der Modeschöpfer Michael Michalskyhat vor ein paar Jahren ein Besteck entworfen, von dem er sicher ausging, dass es Kunden heute mögen – sehr schlich, sehr grafisch. Heute brüten Häuslebauer über Parkettproben oder vergleichen Fliesen. Vor 150 Jahren arbeitete man sich dagegen durch Musterbücher für Holzmosaikarbeiten, um das passende Furnier für die heimische gute Stube zu finden.

Mit Ästhetik lässt sich viel Geld verdienen

Mit Geschmack wird keineswegs erst heute Geld verdient, auch im 19. Jahrhundert waren ästhetische Fragen bereits ein wichtiger Motor für Wirtschaftswachstum. Deshalb wurden Stoffmuster in dicken Büchern abgelegt, um sie besser an die Käufer bringen zu können. Am Verlagsstandort Stuttgart spielten aber auch Musterbücher für Buntpapiere eine wichtige Rolle, weil man das farbige Papier auf die Innenseiten der Buchdeckel klebte.

Parallelen zur Gegenwart ergeben sich von selbst

Obwohl es nicht thematisiert wird, zieht man beim Rundgang durch die Ausstellung fast zwangsläufig Parallelen zur Gegenwart und landet immer wieder beim Internet, das so viele Produkte hinfällig gemacht hat. Die Gemälde der Alten Meister, die Ende des 19. Jahrhunderts in Zeitschriften abgedruckt wurden, um die Leser zu bilden, klickt man heute im Netz an. Und auch die Löschwiege aus den Wiener Werkstätten braucht heute kein Mensch mehr, weil man lieber am Computer statt mit Tinte schreibt.

Sind Jugendstilvasen geschmackvoll?

Die Ausstellung von Irmgard Müsch und Maaike van Rijn ist nicht groß und auch nicht aufwendig gestaltet, aber gerade deshalb sehenswert, weil der Fokus nicht auf der Inszenierung liegt, sondern man sich auf die Objekte konzentrieren kann. Sind die Jugendstilvasen mit ihren Farbverläufen und Ornamenten nun Ausdruck von gutem Geschmack? Oder wurden sie längst von anderen Moden abgelöst?

Sicher würden viele unterschreiben, dass der Sahnegießer von Wilhelm Wagenfeld mit seinem dünnen Glas viel zu fragil ist, um ihn zu benutzen, aber nicht wie der Rettich-Bierkrug als „kunstgewerbliches Verbrechen“ bezeichnet werden sollte – zumindest nicht aus heutiger Sicht.

Guter Geschmack als unumstößliche Wahrheit

Bildung
1896 wurde das „Königlich Württembergische Landes-Gewerbemuseum“ von König Wilhelm II. eingeweiht. In dem Neubau – dem heutigen Haus der Wirtschaft – präsentierte die „Königliche Centralstelle für Gewerbe und Handel“ all das, was der Geschmacksbildung und dem Fortschritt diente.

Verirrungen
Gustav E. Pazaurek, dem Direktor des Landesgewerbemuseums, war es sehr ernst mit der ästhetischen Erziehung der Menschen. Deshalb schrieb er sogar ein Buch über „Geschmacksverirrungen“ und erklärte, dass „Täuschung im Material“ und „falsches Dekor“ Indizien für schlechten Geschmack seien.

Info Die Ausstellung ist von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr zu sehen. adr

Weitere Themen