Stuttgart ist eine gestresste Stadt: Im Zentrum reiht sich eine Baustelle an die andere – und den Skeptiker beschleicht das Gefühl, dass nicht überall mit dem rechten Maß und Ziel an der Zukunft der City gearbeitet wird. Als Trost bleibt da nur die Poesie.

Stuttgart - Es gibt viele Stuttgart-Gedichte, doch das beste, weil treffendste stammt immer noch von Samuel Beckett. In den siebziger, achtziger Jahren arbeitete der irische Nobelpreisträger häufig beim Süddeutschen Rundfunk – und was er nach getaner Arbeit sah, beim Verlassen der Studios im Park der Villa Berg, hat er für die Nachwelt in Reimform festgehalten:

 

Vergesst nicht beim Stuttgart-Besehen

die Neckarstraße zu gehen.

Vom Nichts ist an diesem Ort

der alte Glanz lange fort.

Und der Verdacht ist groß:

hier war schon früher nichts los.

Schmeichelhaft ist dieses Urteil aus Dichtermund nicht. Stuttgart, Neckarstraße: ein Ort für Untote, ohne Trost, verblichen im erinnerungslosen Städtebaugrau. Beckett macht sich immerhin noch die Mühe, das „Nichts an diesem Ort“ mit dem milden Glanz der Poesie zu überziehen. „Und der Verdacht ist groß: / hier war schon früher nichts los“ – der abrundende Schlussakkord klingt schon fast wieder versöhnlich, verglichen mit der harschen Prosa, die unlängst ebenfalls aus dem Sendehaus an der Neckarstraße zu hören war: „Stuttgart ist ein Drecksloch, ein städtebaulicher Irrtum, ein zubetonierter Talkessel“, sagte der Oberschurke im jüngsten, sich um Stuttgart 21 drehenden „Tatort“ des SWR – und während er in dieser Tonlage weiterpolterte, den melancholischen Beckett an Schärfe bei Weitem übertreffend, warf die Kamera einen Blick auf die Innenstadt, über die sich schon gnädig die Nacht gesenkt hatte. Ob Stuttgart ein „Drecksloch“ ist, konnte im funkelnden Lichtermeer der City nicht mehr entschieden werden.

Freilich: Schurken haben mit ihrem Urteil niemals recht. Oberschurken, die sich im „Tatort“ als skrupellose Investoren erweisen, schon gar nicht. Bei Lichte betrachtet, liegt Stuttgart noch immer zwischen Wald und Reben, wunderbar gebettet zwischen sieben Hügeln und fast so traumhaft wie San Francisco, nur ohne Pazifik. Sein Zentrum ist weder ein „städtebaulicher Irrtum“ noch ein „zubetonierter Talkessel“, wie der profitgeile Fernsehbösewicht behaupten durfte. Aber es stimmt schon, da hat er nicht ganz Unrecht: ihn zu widerlegen wird von Tag zu Tag schwieriger.

Mobilmachung am Bahnhof

Wer sich im Sommer 2015 zum Beckett’schen Stuttgart-Besehen entschließt, sollte zur Sicherheit einen Bauhelm tragen. Auf Schritt und Tritt stolpert er in der City über Baustellen mit schwerem Gerät. Sei’s entlang der Konrad-Adenauer-Straße, wo man den Landtag saniert, die Landesbibliothek erweitert und das Wilhelmspalais umbaut; sei’s einen Steinwurf weiter im Dorotheenquartier, zwei Steinwürfe weiter an der Cranko-Schule oder drei Steinwürfe weiter am Tagblattturm, wo ebenfalls Neues entsteht oder Altes modernisiert wird: Im engsten Umkreis trifft der Stuttgart-Beseher auf eine Armee von hochaktiven Kränen, Baggern und Planierraupen, Fräßmaschinen, Betonpumpen und Schuttlastern.

Auf die stärkste Mobilmachung stößt er freilich am Bahnhof, wo nicht umsonst das Herz der „größten Baustelle Europas“ schlägt. Superlativisch ist bei Stuttgart 21 ja alles: die Tiefe der Baugrube, die Zahl der Laster, die Länge der Abwasserrohre, der Krach der Bohrer, die Höhe der Lärmschutzwände und die Labyrinthe der Umleitungen, von den Kosten ganz zu schweigen.

Schön ist diese Seite der City nicht. Sie ist hässlich, staubig, laut und lästig. Und wenn dann noch subtropische Hitze auf dem Kessel lastet, entzündet sich die Fantasie eines Fußgängers womöglich leichter als sonst: Die Stadt stellt er sich dann als Körper vor, der von einer schlimmen Krankheit befallen ist. Von einem bösartigen Fieber, das in einer wüsten Orgie die Herrschaft übernommen und diesen leidenden Körper dazu gezwungen hat, die Stadtbewohner abzuschütteln. Raus mit ihnen! Weg mit ihnen – am besten auf verschlungenen, schlecht beschilderten Trampelpfaden, entlang von Bretterzäunen, Absperrgittern und Absperrbändern, die im Nichts enden. Und während der albträumende Fußgänger diesen anstrengenden Stadtslalom absolviert, kommt ihm auch eine der Parolen des S-21-Protests in den Sinn: „Wem gehört die Stadt?“ wurde da skandierend gefragt. „Den Menschen, die sich darin bewegen, nicht“, flüstert sich der Stuttgart-Beseher zu, bevor ihn das Wummern von Presslufthämmern wieder in die Wirklichkeit zurückreißt.

Droht ein Stadt- und Verkehrsinfarkt?

Die Wirklichkeit: das ist die nicht zu leugnende Notwendigkeit, die Stadt in Schuss zu halten. Darum werden hier Straßenbeläge geflickt und dort alte Gemäuer abgerissen, hier neue Gemäuer hochgezogen und dort Straßenbahnschienen verlegt. Darum die rege Bautätigkeit in Stuttgart, der sich im Prinzip kein Mensch mit Verstand widersetzen kann, sofern ihm die Stadt am Herzen liegt – es sei denn, Herz und Verstand finden berechtigten Anlass, sich über diesen Bauboom doch zu ärgern. Das aber ist häufig der Fall, sieht er doch, in Häuserschluchten wandernd, sich an Autokolonnen im Stau vorbeischlängelnd, immer deutlicher die Gefahr eines Stadt- und Verkehrsinfarkts heraufziehen. Muss denn das halbe Zentrum auf einen Schlag umgegraben werden? Kann man der City keine Verschnaufpause gönnen? Und ihren Bewohnern dazu? Wo bleibt das richtige Maß?

Wer solche Fragen stellt, neigt dazu, den in Beton gegossenen Aufbruch nicht nur als Segen zu empfinden. Er entdeckt darin auch den Fluch eines entfesselten Aktionismus, der Stuttgart – in der Nachfolge von Berlin – zur Baustellenhauptstadt der Republik aufsteigen ließ. Ein Titel, den ihr so bald niemand streitig machen wird, zumal die größte, ja gigantischste Wühlarbeit, die das Nesenbachtal je gesehen hat, ja erst noch bevorsteht. Die Arbeiten an Landtag, Landesbibliothek, Dorotheenquartier und Cranko-Schule werden schon längst erledigt sein, wenn rund ums Stuttgart-21-Areal noch gegraben, gesprengt und betoniert wird. Das Baggern geht weiter – und während andere Städte ihre Sehenswürdigkeiten wie auf einer Perlenkette aufreihen, wird man in Stuttgart lediglich eine perlenlose Kette staubiger Baugruben zu bieten haben. Im Volksmund sagt man zu dieser Attraktion auch Dreckslöcher.

Und Beckett bietet Trost

Dreckslöcher? Hat der SWR-Oberschurke am Ende also doch recht? Stuttgart als „städtebaulicher Irrtum“?

Im „Tatort“ will der Architekt & Investor den besagten Irrtum korrigieren. Auf den freien Flächen hinter dem Stuttgarter Bahnhof plant er eine Reihe „visionärer Projekte“ – und die Ironie der Geschichte liegt darin, dass just das, was er großspurig als Heilmittel empfiehlt, von vielen als Gift abgelehnt wird. Im Film wie im richtigen Leben, wo selbst der Stuttgarter Oberbürgermeister die bereits existierende S-21-Bebauung als „kafkaesk“ bezeichnet. Kaum etwas deutet ernsthaft darauf hin, dass sich an dieser Unwirtlichkeit in Zukunft etwas ändern wird, weder hier noch anderswo: Die Skepsis in der Stadt ist groß, dass das Kommende tatsächlich besser sein wird als das Gewesene. Es fehlt ein Plan. Wäre es anders, könnten sich wohl mehr Menschen als bisher mit dem Baustress anfreunden. So aber, ohne lockende Aussichten ins Danach, bleibt ihnen als Trost nur das Beckett-Gedicht über die Neckarstraße, das in einer geografisch erweiterten S-21-Fassung überdauern könnte:

Vergesst nicht beim Stuttgart-Besehen

ins Zentrum zu gehen.

Vom Nichts ist an diesem Ort

der alte Glanz längst fort.

Doch der Verdacht ist groß:

Hier war früher schon was los.

Möge es anders kommen. Möge der Glanz zurückkehren. Die Großstadt zwischen Hängen und Würgen, pardon, zwischen Wald und Reben hätte es verdient.