Vor fast einem Jahr sind die Mitglieder der ersten Baugemeinschaft Stuttgarts in ihre Gebäude an der Bernsteinstraße in Stuttgart-Heumaden eingezogen. Wir haben nachgefragt, wie das Zusammenleben funktioniert.

Heumaden - Die ersten roten Tupfer an den Tomatensträuchern leuchten durchs Grün, Gurken und Zucchini sind bereits geerntet. Die Kürbisse brauchen noch, ihr sattes Orange verheißt aber Gutes. Vielleicht gibt’s einen riesengroßen Topf Suppe? In den Häusern Bernsteinstraße 4D und E ist vieles denkbar. Der Garten gehört allen zusammen, an Salat oder Johannisbeeren darf sich jeder bedienen. Häufig wird gemeinsam gegessen. Aber längst nicht nur das machen die Bewohner zusammen.

 

Vor etwa einem Jahr sind die Häuser mit den Namen „Bern“ und „Stein“ fertig geworden. Erstellt hat sie die erste Baugemeinschaft in Stuttgart. Zwar hatte es auch zuvor Gruppen gegeben, die sich ohne professionellen Bauträger zum günstigen Bauen zusammengetan hatten, vor fünf Jahren aber hatte der Gemeinderat die Konzeption in eine Form gegossen und per Beschluss den Verkauf von städtischen Grundstücken zum Festpreis ermöglicht – vornehmlich an Gemeinschaften mit kreativen sozialen Konzepten. „Bern“ und „Stein“ waren von 2013 an geplant worden, Anfang 2016 ging’s los im Heumadener Gebiet „Über der Straße“. Für 14 Wohnungen zeichnete der Bau- und Heimstättenverein verantwortlich, für zwei das Behindertenzentrum BHZ, in sieben Eigentumswohnungen sind Privatleute eingezogen. Geplant wurde alles in der Gruppe.

Begegnungen sind gewollt, keiner huscht durchs Treppenhaus

Es geht um Gemeinschaft. Die Häuser sind so konzipiert, dass man nicht durchs Treppenhaus huscht, sondern auf Außengängen wandelt. Begegnungen sind gewollt. Ein Schotterplatz in der Mitte bietet sich für Feste an. Vor dem Komplex findet sich ein Parkplatz eines Carsharing-Anbieters. Mitteilungen an alle gehen in den großen durchsichtigen Briefkasten. Jeder kennt sich. „Hier stehen oft die Haustüren offen“, sagt Nicole Rogalski, die samt Mann und Kind hier lebt.

„Mir gefällt es ganz arg, es ist alles ganz anders hier“, sagt ihre Nachbarin Dagmar Jarjusey (51). Sie lebt in einer der BHZ-Wohnungen, seit einem Schlaganfall 2002 hat sie körperliche Einschränkungen. In der Gruppe fühlt sie sich gut aufgehoben. Wenn daheim mal etwas aufgehängt werden muss oder die Einkäufe zu schwer sind, ist immer Hilfe da. Alle sprechen sich mit Vornamen an. Für Nicole Rogalski (37) ist das entscheidend. „Ich bin im Dorf groß geworden. Meine Tochter kann auch so aufwachsen. Solche Strukturen gibt es in der Stadt selten“, sagt sie. Sie hat überschlagen, dass von den etwa 60 Nachbarn rund 15 Kinder sind. Spielkameraden sind immer da, „hier muss man nur die Tür aufmachen“. Auch aus der Nachbarschaft kommen Mädchen und Jungen, „es hat sich schnell rumgesprochen, dass man hier gut spielen kann“.

Die Bau- ist auch eine Lebensgemeinschaft

Die Bau- ist auch eine Lebensgemeinschaft. Wie eine große Familie. Wenn im Gemeinschaftsraum samt Küche nicht gerade alle vier Wochen Gruppentreffen abgehalten werden oder die Kinder eine Zirkusaufführung darbieten, wird beispielsweise zusammen gegessen. „Es läuft viel über E-Mail. Letzten Dienstag hat einer geschrieben, dass er gern Flammkuchen machen würde. Am Freitag war hier Disco“, sagt Nicole Rogalski. Die Arbeitsgemeinschaft Garten kümmert sich ums Grünzeug, eine andere baut aktuell eine Werkstatt auf, die AG Öffentlichkeitsarbeit beantwortet Anfragen von Bürgern, die wissen wollen, wie eine Baugemeinschaft funktioniert. Das Interesse ist groß – auch in der Nachbarschaft. „Das ist ein besonderes Haus, das weiß jeder“, erklärt Nicole Rogalski.

Der Neubau Foto: Caroline Holowiecki

Alles kann, nicht alles muss. „Ich arbeite und gehe um 20 Uhr ins Bett, ich kann nicht überall mitmachen“, betont Dagmar Jarjusey. Auch Nicole Rogalski bekennt, dass ihr Ehemann anfangs Zweifel gehegt habe, ob ihm das Ganze nicht zu viel werden würde. Tatsächlich sei er heute Feuer und Flamme, dennoch betont die 37-Jährige: „Hier ist keiner böse, wenn einer sich auch mal zurückzieht.“ Mit 60 Menschen könne man nicht bester Freund oder Freundin sein, sagt sie. Aber alle kommen miteinander aus. Kompromisse und Kommunikation sind die Grundpfeiler in der Bernsteinstraße 4D und E. So wurde etwa zuliebe der etwas Ruhigeren eine spielfreie Stunde am Tag eingeführt. An vieles müsse man sich erst rantasten. Wie an die Grünpflege. „Die Hecke ist etwas kaputt, der Rasen ist Kraut und Rüben“, sagt Rogalski. Sie lächelt. „Das ist nichts, woran wir verzweifeln.“