Kriegsgefangene aus dem Lager Gaisburg – eine Szene aus der Stuttgarter Kriegsfilmchronik Foto: Stadtarchiv Stuttgart
Serie: Vom Kriegsgefangenenlager in Gaisburg finden sich keine Spuren mehr. Das gilt auch für sowjetische und französische Soldaten, die bei einem alliierten Angriff 1943 umkamen.
Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit haben am 9. Mai rund 250 Menschen, überwiegend Russischstämmige, am Steinhaldenfriedhof den im Zweiten Weltkrieg dort bestatteten wohl rund 700 Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus Ost- und Mitteleuropa gedacht – speziell den sowjetischen Opfern. Wie Teilnehmer berichteten, zog – ähnlich wie bei der Parade am selben Tag in Moskau – ein sogenanntes unsterbliches Regiment zu den Gedenksteinen auf dem Friedhof, die den Opfern gewidmet sind. Blumen wurden niedergelegt und ein Gottesdienst abgehalten.
Unbeachtet – diese Feststellung trifft auf das Thema Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter insgesamt zu. So wurde auf dem Steinhaldenfriedhof erst vor zwei Jahren das Gräberfeld der polnischen Zwangsarbeiter mit Hilfe polnischer Steinmetze in einen würdigen Zustand versetzt. Die Initiative war von der in Warschau ansässigen Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung ausgegangen. Stuttgarts Erster Bürgermeister Fabian Mayer hatte sich hier zum Fürsprecher gemacht. Jetzt sind die Namen von 226 auf dem Hauptfriedhof begrabenen Polen auf Stelen verewigt.
Gedenken am Steinhaldenfriedhof Foto: Max Kovalenko
Bei den nach Stuttgart verschleppten und hier ums Leben gekommenen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion ist das nicht der Fall. Sie standen in der „rassistischen nationalsozialistischen Hierarchie der Nationalsozialisten ganz unten“, wie Katharina Ernst, Leiterin des Stadtarchivs, in der aktuellen Folge der Kriegsfilmchronik erklärt. Das war auch im Kriegsgefangenenlager an der Ulmer Straße in Gaisburg der Fall. In den Baracken waren zunächst vor allem französische Kriegsgefangene interniert. Im Frühjahr 1942 wurde dann laut Stadtarchiv ein abgetrennter, zweiter Lagerteil für sowjetische Kriegsgefangene errichtet. „Die sowjetischen Soldaten wurden schlechter behandelt und verpflegt als die Franzosen“, sagt Ernst.
Ein Film, der im Rahmen der sogenannten Kriegsfilmchronik entstand, zeigt noch den ursprünglichen Zustand des Lagers – ohne sowjetische Kriegsgefangene. Die Aufnahmen wurden 1941 gemacht. Zu sehen sind französische Gefangene, die auf ihrer Kleidung den Aufdruck „KG“ – für „Kriegsgefangene“ tragen und verschiedene körperliche Arbeiten verrichten.
Bereits vor Kriegsbeginn hatte in Stuttgart großer Arbeitskräftemangel geherrscht. Aus dem Ausland angeworbene Arbeiter, später dann Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, sollten diesen Mangel beheben. Katharina Ernst weist darauf hin, dass neben der Stadtverwaltung etliche Firmen, landwirtschaftliche Betriebe und auch Privathaushalte Bedarf an diesen Arbeitskräften anmeldeten. Ebenso die SS.
Kriegsgefangene beim Bunkerbau Foto: Stadtarchiv Stuttgart
In der Mehrzahl wurden die Kriegsgefangenen des Lagers Gaisburg für städtische Arbeiten eingesetzt. Der von dem Regisseur Jean Lommen gedrehte Film zeigt beispielsweise, wie Gefangene auf Anforderung des Tiefbauamtes das Steinbett des Feuerbachs ausbessern, das bei einem Hochwasser beschädigt worden war. Zu sehen ist auch, wie französische Gefangene die Außenanlagen des Vieh- und Schlachthofs reinigen, Obstbäume abstützen und in den Technischen Werken der Stadt Kohle transportieren. Eine wichtige Rolle spielten sie auch beim Bau von Luftschutzräumen, wie dem zentralen Wagenburgtunnel, der rund 20 000 Menschen Schutz vor Luftangriffen bot. Eingesetzt wurden die Gefangenen aus Gaisburg zudem bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen auf die Stadt.
„Kriegsgefangene waren in der Stadt keinesfalls unsichtbar“
So unbeachtet Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in der Nachkriegszeit lange geblieben sind, so sichtbar müssen sie in den Kriegsjahren gewesen sein. Der Film zeigt, wie die französischen Lagerinsassen in Gruppen zu ihren Arbeitsstellen in der Stadt gebracht werden. Teils seien sie auch mit Sonderwagen der Straßenbahn unterwegs gewesen, erklärt Katharina Ernst und folgert daraus: „Sie waren keinesfalls unsichtbar.“
Zudem seien neben dem in Sichtweite des Gaskessels errichteten Lager Gaisburg, in der Stadt nach und nach weitere Lager für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter angelegt worden. Teils wurden dafür auch Gaststätten und Schulen genutzt – alles in Reichweite der Bevölkerung. „Für viele Stuttgarterinnen und Stuttgarter lag das nächste Lager nicht sehr weit weg“, betont die Leiterin des Stadtarchiv: „Kontakte zwischen der Bevölkerung und den Kriegsgefangenen waren allerdings verboten.“
Die Nähe des Kriegsgefangenenlagers Gaisburg zu den Daimler-Motorenwerken, in denen damals Rüstungsgüter hergestellt wurden, sollte für die Insassen fatale Folgen haben. Bei einem alliierten Bombenangriff im April 1943 wurde das Barackenlager getroffen. Die Gefangenen hielten sich zwar in Bunkern am Neckardamm auf. Ein Ausgang war infolge des Angriffs und der ausbrechenden Feuer jedoch unpassierbar geworden. Bei dem Versuch, Notausgänge zu öffnen sei eine Kaminwirkung entstanden, erklärt Katharina Ernst: „Flammen und giftige Gase wurden in den Bunker hineingesaugt.“ Eine tödliche Falle. 431 Gefangene kamen ums Leben.
Die sowjetischen Opfer wurden einfach nur in Papiersäcke gehüllt
Auch im Tod zeigte sich „die menschenverachtende nationalsozialistische Unterscheidung in angeblich wertvollere und wertlosere Menschen“, hat Katharina Ernst festgestellt. Während man die französischen Opfer zwar in einem Massengrab, jedoch in Särgen und mit militärischen Ehren auf dem Steinhaldenfriedhof bestattete, wurden die 162 getöteten sowjetischen Kriegsgefangenen Augenzeugenberichten zufolge in Papiersäcke gehüllt auf dem Friedhof verscharrt. „Es gab keine Anstrengungen, sie zu identifizieren, und wir kennen ihre Namen nicht“, sagt Ernst. Die französischen Opfer seien bis auf zwölf namentlich bekannt.
Ihre letzte Ruhestätte haben sie in ihrer Heimat gefunden, denn nach dem Krieg ließ die französische Regierung die Toten nach Frankreich überführen. Die Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion sind hingegen bis heute namenlos geblieben, als hätten sie nie existiert.
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Buch Dokumentiert ist das oben beschriebene Geschehen in dem Buch von Elmar Blessing „Die Kriegsgefangenen in Stuttgart. Das städtische Kriegsgefangenenlager in der Ulmer Straße und die ,Katastrophe von Gaisburg‘“.