Im Monat raste er zu 100 Terminen, sein Arbeitsplatz war die Dunkelkammer: StZ-Fotograf Horst Rudel öffnet für ein Buch seine Archivschätze der 70er. Zu sehen ist unter anderem, wie Abba-Sängerin Anni-Frid im Trikot des VfB Stuttgart auftrat.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Am Wahlsonntag zur Landtagswahl 1976 hat’s verdächtig getropft. Mit seinem privaten „Stufenheck-VW“ war der damalige Oberbürgermeister Manfred Rommel ins Bezirksrathaus Sillenbuch gefahren, um sein Kreuzchen zu machen. Dort wartete Horst Rudel, seit 1975 Fotograf in der Lokalredaktion der Stuttgarter Zeitung, auf ihn. Als die beiden nach getaner Stimmabgabe den Heimweg antreten wollten, bemerkte der große deutsche Politiker eine Lache aus unbestimmter Flüssigkeit unter seinem Wagen. „Rommel hat die Hände nicht aus den Manteltaschen genommen“, erinnert sich Rudel. Was sollte auch einer wie er, der kein Autonarr ist, sondern Dichter und Denker, in dieser Lage tun? Der nur kurz irritierte Mann ließ seinen schon damals alten Volkswagen stehen, lief zu Fuß nach Hause und rief dort seinen Fahrer an, dieser möge sich anderntags um sein „Auslaufmodell“ kümmern.

 

Ein Mann mit dem Blick für das große Ganze

Alltägliche und doch auch politische Szenen wie diese hat der 1951 geborene Rudel in seiner lange noch nicht abgeschlossenen Arbeit als Zeitungsfotograf oft erlebt. Für den Bildband „Rommel, RAF und Staatstheater“, der jetzt im Silberburg-Verlag erschienen ist, durchsuchte er monatelang sein Riesenarchiv („es sind Millionen von Aufnahmen, die kann ich nicht zählen“), um seine besten Fotos der 70er auszuwählen – Fotos, die ein spannendes Jahrzehnt wachküssen, das für Schlaghosen, Großbaustellen in der City auf dem Weg zur unterirdischen Stadtbahn und S-Bahn, für Rommels Liberalität, für das Erwachen eines Ballettwunders, für Lange Nächte, den Start des Weindorfs und vieles mehr steht. Der 1948 geborene Thomas Borgmann, der über viele Jahre Leitender Redakteur für Kommunalpolitik sowie Vizelokalchef der Stuttgarter Zeitung war, hat einfühlsame und informative Texte zu Fotos geschrieben, die in Schwarz-Weiß und in hoher Druckqualität mit dem Blickwinkel eines Chronisten bestechen, der scheinbare Nebensächlichkeiten entdeckt und damit das große Ganze erklären kann.

Als die Weichen für das heutige Stuttgart gestellt worden sind

„Die politische Weichen auf dem Weg zur Landeshauptstadt von heute wurden in den siebziger Jahren gestellt“, schreibt Borgmann im Vorwort. Der Autor schätzt den Kollegen Rudel, mit dem er seit über 50 Jahren zusammenarbeitet (zuvor waren beide bei der „Filder-Zeitung“) vor allem für seine „Features“ – für Stimmungsbilder, die ihre Symbolkraft auf den ersten Blick entfalten.

So ein „Feature“ entstand am Wilhelmsbau. Nachdenklich blickt ein Mann, den Kopf auf die Hände gestützt, in den Abgrund einer Baustelle für die Straßenbahn. Ahnen konnte er freilich nicht, dass viele Jahre später Stuttgart erneut zur Stadt des Umwühlens wird, dass noch viel mehr tiefer gelegt wird.

Etwa 100 Termine pro Monat hat Rudel damals absolviert – die Woche hatte sieben Tage. Samstags und sonntags war besonders viel los. Einer der Termine war ein Abba-Konzert 1979 in Böblingen. Sängerin Anni-Frid trug ein VfB-Trikot – sie dachte, sie sei in Stuttgart. Damals gab es keine Schleyerhalle.

„Im Tagblattturm hat es nach Druckfarbe gerochen“

Auch schöne Aufnahmen von John Cranko oder von Hansi Müller sind im Buch zu entdecken. Ein Schwerpunkt – das zeichnet die Neuerscheinung aus – sind Aufnahmen des Alltags. Mit ihnen lässt sich nachempfinden, wie sich das Leben der 70er angefühlt hat. Horst Rudel erinnert sich gern an die Zeit im Tagblatt-Turm, wo sich seine Dunkelkammer befand: „Dort hat es nach Druckfarbe der Druckerei gerochen.“ Um 1994 begann das digitale Zeitalter. Seitdem kann man sofort sehen, wie das Foto geworden ist. Damals war es eine Sache vom Gefühl. Schöne Gefühle beschert uns der Bildband aus einer Zeit, die anders war, aber nicht besser.

Stuttgart in den Siebzigern

Das Buch „Rommel, RAF und Staatstheater“ von Horst Rudel (Fotos) und Thomas Borgmann (Text) trägt den Untertitel: „Stuttgart in den 70er Jahren – ein bewegtes Jahrzehnt in Bilder“. Es ist als Hardcover mit 168 Seiten und etwa 190 Aufnahmen im Silberburg-Verlag erschienen. ISBN: 9 783 842 523 425. Format: 22,7 x 27,4 Zentimeter, Preis: 29,99 Euro.