Pulsierendes Nachtleben, künstlerische Avantgarde, und die Wirtschaft brummte dazu: In den Zwanzigern war Stuttgart ein vor Experimentierlust überschäumender Kessel.

Stuttgart - Fünf-Uhr-Tanztee mit Kapelle und leise plätscherndem Springbrunnen im Kunstgebäude? Ein dreistöckiges Konzertcafé im Hindenburgbau, das mehr als 1000 Besucher fasst? Riesige Lichtspielhäuser, Varietétheater und Sportveranstaltungen am Neckar? Hört man „Roaring Twenties“, denkt man an bubikopftragende Charlestontänzerinnen in Berlin, aber nicht an das Leben in der doch eher behäbigen Schwabenmetropole. Falsch, sagt Jörg Schweigard, der jetzt das Buch „Stuttgart in den Roaring Twenties“ über die kurzen, wilden Jahre zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Naziherrschaft veröffentlicht hat.

 

In Stuttgart gab es Anfang der zwanziger Jahre eine Avantgarde in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Er habe nun bewusst auf dieses Lebensgefühl anspielen wollen, sagt der Historiker und Journalist, auf das „Jazz Age“, die neuen technischen Möglichkeiten, die neuen Freiheiten, auch für die Frauen. „Der Begriff ,Roaring Twenties‘ wird selten im Zusammenhang mit der Weimarer Republik verwendet, weil sie, abgesehen von Berlin, immer schon vom Ende her betrachtet wird. Die zwanziger Jahre werden eher als Zeit vor dem Nationalsozialismus wahrgenommen, weniger als eigenständiges, schillerndes Jahrzehnt.“

Für Stuttgart habe man bisher noch kaum herausgearbeitet, was die speziellen Merkmale dieser Stadt in dieser Zeit waren, dabei seien sie auffällig: „Stuttgart war eine besonders republiktreue Stadt, das zeigt sich zum Beispiel daran, dass sie 1920 nach dem Kapp-Putsch in Berlin die geflüchtete Reichsregierung von Friedrich Ebert willkommen hieß, die dann ins Alte Schloss einziehen konnte, während im Kunstgebäude der Reichstag residierte.“

Neues Bauen in der Stadt

Herausragend in der Kunstszene war der Hölzel-Kreis, zu dem neben dem abstrakten Maler Adolf Hölzel unter anderem Oskar Schlemmer, Willi Baumeister, Johannes Itten und Ida Kergovius gehörten. In der Architektur glänzten Resultate des Neuen Bauens wie der Tagblattturm sowie die weltberühmte Weißenhofsiedlung. „Sie allein zeigt schon, dass die Stadt sehr experimentierfreudig war, dass der Stadtrat und der Bürgermeister das Wagnis auf sich genommen haben und dass es schon sehr viel Mut erforderte, sich gegen eine große Gruppe Rückwärtsgewandter und Kulturkonservativer durchzusetzen“, sagt Jörg Schweigard beim Gespräch im Café Deli am Stuttgarter Hans-im-Glück-Brunnen. An den geplanten gemeinsamen Stadtspaziergang ist beim Dauerregen an diesem Nachmittag nicht zu denken.

Ersatzweise spazieren wir mit den Fingern auf einer historischen Karte, die er mitgebracht hat. Er wird fast wehmütig, wenn er über eine Innenstadt spricht, die noch nicht von Stadtautobahnen zerschnitten wurde, in der vor Kriegszerstörung und nachträglichem Abriss die Moderne stark repräsentiert war, und eine herrliche innerstädtische Erholungsfläche wie der Stadtgarten noch nicht großenteils überbaut. Ufa-Palast, Excelsior, Elsässer Taverne, Friedrichsbau – „was das Nachtleben angeht, haben wir hier wahrscheinlich bis heute noch was nachzuholen“, sagt Schweigard.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verschwanden diese Etablissements nach und nach. Ihre Klientel wurde ins Exil getrieben, umgebracht oder verschwand in innerer Emigration. Jella Lepman, Else Kienle, Fred Uhlman, Friedrich Wolf oder Fritz Elsas – vielen Protagonisten einer kulturell und politisch offenen Zeit setzt er in seinem Buch, an dem er vier Jahre arbeitete, kleine Denkmäler.

Spannende Jahre

Auf die zwanziger Jahre gestoßen war Schweigard, als er für das künftige Stadtmuseum nach Ausstellungsschwerpunkten recherchierte. „Da bin ich immer wieder über Besonderheiten und interessante Persönlichkeiten gestolpert, über viele kleine Ereignisse und Erkenntnisse, die sich um die großen ranken.“ Woran die Stuttgarter damals starben etwa, wie sich die erwachende Warenhauskultur ausbreitete, oder dass Stuttgart schon damals eine Autostadt war, die Ende der zwanziger Jahre Berlin im Pro-Kopf-Aufkommen überholte. Bis von Pforzheim und Wasseralfingen her seien die Beschäftigten der Betriebe, der vielen Banken und Versicherungen wegen der guten Arbeitsplätze gependelt. Und es gab eine breite Bildungsbewegung, die vor allem die unteren Bevölkerungsschichten ansprechen sollte. Spannend, all das.

Aber wahrscheinlich muss man sich von ganzem Herzen als Stuttgarter fühlen, um sich dann so leidenschaftlich mit diesen Geschichten zu befassen. Jörg Schweigard ist in der Landeshauptstadt geboren, im Umkreis von Pforzheim aufgewachsen und zum Studium schließlich wieder zurückgekehrt. „Ich identifiziere mich mit Stuttgart, das merkt man dem Buch wahrscheinlich an“, sagt er. Es sei ihm wichtig gewesen, nicht nur für das Fachpublikum zu schreiben. Ausführlich schildert er neben den Entwicklungen in Kultur, Architektur und großer Politik auch populäre Themen wie Sport und Freizeitgestaltung. „Interessant ist etwa, dass Fußball sich in dieser Zeit zum Massensport entwickelte, es gab Großveranstaltungen wie das Sechstagerennen in der Stadthalle an der Neckarstraße oder das Solituderennen.“

Vor allem aber für die vielen alternativen Ansätze und sozialen Experimente, an denen sich verschiedenste Gruppierungen damals versuchten, vermag sich der Spezialist für deutsche Jakobinerforschung, der an der hiesigen Universität promoviert hat, zu begeistern. „Stuttgart ist und war eine Stadt der Sonderbewegungen“, erklärt er. Fortschrittlich denkende Unternehmer wie Robert Bosch, der schon vor dem Ersten Weltkrieg den Achtstundentag einführte, Konsumvereine, die versuchten, den kapitalistischen Kreislauf durch eigene Läden zu unterbrechen, die Vagabundenbewegung, die hier ihr Zentrum hatte, die Waldheime, die anthroposophischen Waldorfschulen, die Homöopathiebewegung – alles im frühen 20. Jahrhundert entstandene Stuttgarter Besonderheiten.

Die Tradition des Widerstands

Das Erstaunen der überregionalen Medien über den massiven Widerstand der Bürger gegen Stuttgart 21 sei für ihn deshalb überraschend. „Stuttgart hat eine Tradition in diesem Bereich.“ Man müsse nur an die ganzen Querköpfe und Schwabenschädel denken, die gegen die Obrigkeit angetreten sind, von der Französischen Revolution über 1848 bis in den Widerstand gegen den Nazis. „Aus der Region kommen die zwei wichtigen Personen, die ein Attentat auf Hitler versuchten, Georg Elser und Claus Schenk Graf von Stauffenberg.“

Drängen sich dem Historiker also Vergleiche mit der heutigen Situation, dem anhaltenden Streit über die Pläne für Stuttgart 21, geradezu auf? Jörg Schweigard sieht das natürlich differenziert, Paul Bonatz etwa, als Vertreter der Stuttgarter Schule, sei mit seinem Hauptbahnhof ja nun kein Vertreter, sondern gerade ein Gegner des Neuen Bauens gewesen, „aber er schuf sozusagen das Fanal dafür, indem er mit seinem Gebäude eine Ramme in die Stadtmitte gehauen hat und dadurch klar kennzeichnete, dass hier die Innenstadt beginnt“.

Die Presse – in Stuttgart existierten vor hundert Jahren unter anderem zwanzig Tageszeitungen – zeigte sich angesichts der vielen Innovationen größtenteils liberal und weltoffen. „Dadurch konnten sich Experimente, etwa im Theater mit Paul Hindemith und vielen expressionistischen Stücken, zeitweise durchsetzen.“ Völlig geräuschlos sei das allerdings nie vonstattengegangen. Die weltanschaulichen Gegensätze spiegelten sich besonders in der Landespolitik: „Das Land hat die Stadt regiert, von 1924 an hatte Württemberg eine Mitte-rechts-Regierung, und die repräsentierte nicht die politische Haltung der Stuttgarter, die im Rathaus bis zum Jahr 1931 immer eine klare Mehrheit für die republikanischen Parteien hatten.“

Eine Hommage an die Heimatstadt

Auffällig sei die eine gewisse Zeit anhaltende relative Schwäche der Nationalsozialisten, die der Autor Jörg Schweigard auf verschiedene Gründe zurückführt. Wirtschaftlich kam Stuttgart besser durch die Krise als viele andere Regionen. Politisch hielt eine sehr starke Arbeiterbewegung mit so prägnanten Persönlichkeiten wie Kurt Schumacher oder Fritz Bauer dagegen. Und auch die Linksliberalen spielten hier lange eine größere Rolle als andernorts. Auf dem Land habe es zudem die rechtskonservative und christlich orientierte Konkurrenz gegeben, den Bauern- und Weingärtnerbund, der bis zu zwanzig Prozent holte und lange Zeit erfolgreich Wählerschichten binden konnte.

Vom Hundertsten ins Tausendste könnte Jörg Schweigard beim Erzählen kommen. In seinem Buch lässt er neben eher kurz gehaltenen Zusammenfassungen auch viele Bilder sprechen. Fotografien von mondänen Damen aus dem Oberschichtenblatt „Gesellschaft und Leben“, Archivaufnahmen von der Arbeitersportbewegung, Gemälde von Reinhold Nägele – auch sie erzählen von einer Stadtgeschichte, die es lohnt wiederzuentdecken, geleitet vom Autor, der mit dem Buch durchaus auch eine Hommage an seine Heimatstadt verfasst hat. „Vielleicht sogar mit dem heimlichen Wunsch, dass jetzt hier eine ähnlich interessante kulturelle Zeit anbricht wie vor fast hundert Jahren“, sagt er und entschwindet in Richtung Königstraße, vorbei an einer gewaltigen Bausünde, wo einst das schöne Kaufhaus Schocken stand.