Juliana und ihr Bruder Nicolas haben ein Ziel: Sie wollen das goldene Totenkopfabzeichen machen. Dass seine Schwester ein Chromosom mehr hat, ist für Nicolas ohne Bedeutung. Die Stuttgarter Fotografin Conny Wenk erzählt in „Außergewöhnlich: Geschwisterliebe“ von Geschwistern mit und ohne Downsyndrom.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Nicolas und Juliana haben Großes vor. Mehr geht dann eigentlich gar nicht mehr. Jedenfalls nicht im Wasser und nicht unter Aufsicht der Schwimmjuroren. Das Geschwisterpaar ist gut im Training. Es wird Anfang Mai wohl klappen mit dem goldenen Totenkopfabzeichen. Dann haben es der Zwölfjährige und seine 15-jährige Schwester amtlich und mit Urkunde: sie können beide zwei Stunden, also 120 Minuten lang, schwimmen. Ohne Unterbrechung am Beckenrand. Nicolas schätzt, dass er in der Zeit schon 200 Bahnen im Heslacher Stadtbad schaffen wird. Juliana lässt das Ganze gelassen auf sich zukommen. Zusammen mit ihrem Bruder trainiert sie schließlich regelmäßig jede Woche. Es kann also nichts schiefgehen. Und da der Opa ein Segler mit Boot ist, hat das Ganze ja auch seinen ganz praktischen Sinn.

 

Conny Wenk, die Mutter der beiden, die in den eher beschaulichen Zeiten aufgewachsen ist, als man sich mit dem Frei- oder Fahrtenschwimmer, also 15 respektive 30 Minuten Ausdauerschwimmen begnügte, bekommt schon allein bei dem Gedanken an die Prüfung weiche Knie. Aber im Moment sind Ferien, das Wettkampffieber der Kinder und das Lampenfieber der Mutter hält sich deshalb noch in Grenzen. Nicolas und Juliana lümmeln entspannt auf dem Sofa im Wohnzimmer im Stuttgarter Westen. Wären nicht schon alle Fotos gemacht, müsste ihre Mutter eigentlich sofort zur Kamera greifen, um das Geschwisteridyll abzulichten.

Inklusionsgeschichten ohne Theoriehammer

21 Geschwisterpaare und -trios, die sich ebenso innig verbunden fühlen und trotzdem auch mal tierisch genervt sind voneinander wie Nicolas und Juliana, hat die Fotografin in den letzten Monaten abgelichtet. Levi (5), der von seiner zweieinhalbjährigen Schwester Feline sagt, sie sei „so furchtlos und mutig wie eine Piratin“ ist in dem Buch ebenso vertreten wie die gefeierte Tarzan-Musical-Sängerin Sabrina Weckerlin, die von ihrer 45-jährigen Schwester Silke und deren Leidenschaft für Volksmusik berichtet. Allen Fotos werden durch Texte der Geschwister ergänzt – und hören bewusst nicht im Schulkindalter auf. Die Bilder erzählen verdichtete Beziehungsgeschichten von Geschwistern mit und ohne Downsyndrom, sind kleine Inklusionsgeschichten ohne Theoriehammer.

Erst vor wenigen Stunden hat der Postbote die Pakete mit den druckfrischen Exemplaren gebracht. „Außergewöhnlich: Geschwisterliebe“ heißt der Band. Nicolas und Juliana blättern neugierig darin auf der Suche nach den Fotos, die sie selbst zeigen. Hochtrabend könnte man sagen, Conny Wenk habe mit dem knapp 130-seitigen Buch eine Familientrilogie beendet, die freilich nie als solche angelegt war. Aber als 2001 ihre Tochter Juliana auf die Welt kam und sie und ihr Mann am Tag nach der Geburt die Diagnose „Ihr Kind hat das Downsyndrom“ erstmal verarbeiten mussten, begann sich die junge Familie schnell und leidenschaftlich bei der Elterninitiative „46 plus“ für Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom zu engagieren.