Mit 50 Jahren hat Anton Hermann seinen gut bezahlten Job bei der Telekom gekündigt, um „etwas Sinnvolles“ zu tun. Er betreut mehrfach die Woche Menschen mit einer körperlichen Behinderung. Wir haben ihn begleitet.

Klima und Nachhaltigkeit: Julia Bosch (jub)

Möhringen - Wenn in dem Leben von Marcus Barthel (37) etwas schlecht läuft, dann sind oft die anderen daran schuld: seine Mutter, die Kollegen, die Betreuer. Donnerstagnachmittags trifft es immer wieder auch Anton Hermann. Der 61-jährige Möhringer unternimmt ehrenamtlich einmal in der Woche einen Ausflug mit Marcus Barthel; einem Mann, der seit einem Schlaganfall vor fünf Jahren im Rollstuhl sitzt. Dann gehen die beiden Männer Tabak oder Kaugummis kaufen, besuchen ehemalige Kollegen oder laufen eine Runde durch den Park. Leicht ist das nicht immer; Marcus Barthel versteckt den Frust über sein Schicksal nicht.

 

Doch obwohl Anton Hermann manchmal als Ventil für Barthels Frust herhalten muss, ist es für Außenstehende unübersehbar, dass die gemeinsamen Ausflüge kleine Anlässe zur Freude für Barthel sind. Endlich mal ein erwachsener Mann, mit dem er über alles sprechen kann: über den VfB Stuttgart, über das Rauchen, über Frauen.

„Scheu ist fehl am Platz“

„Man muss ein Herz für Menschen mit körperlichen Einschränkungen haben – und Scheu ist da fehl am Platz“, sagt Anton Hermann. Als ehrenamtlicher Betreuer im Körperbehinderten-Verein Stuttgart gehört es dazu, in gewissen Situationen einfach zupacken zu können. Seit zweieinhalb Jahren fährt Anton Hermann einmal in der Woche von seiner Wohnung in Möhringen zur Wohngruppe Krokodil in Bad Cannstatt und holt Marcus Barthel ab für diverse Ausflüge. Außerdem ist er zwei Mal pro Woche in der Margarete-Steiff-Schule in Möhringen tätig, wo Kinder unterrichtet werden, die zum Teil schwerst mehrfach behindert sind. Dort betreut er nach dem Unterricht nachmittags unterschiedliche Jungsgruppen. Er nennt sie liebevoll „meine Knirpse“.

Marcus Barthel ist kein Knirps mehr. Hätte er vor fünf Jahren aufgrund seiner Diabeteserkrankung keinen Schlaganfall erlitten, hätte er heute vielleicht eine eigene Familie. An den Vorfall erinnert er sich kaum mehr: „Ich weiß, dass ich sechs Wochen lang im Koma lag – und als ich aufwachte, setzten Ärzte mich in einen Rollstuhl und sagten: ‚Das ist ab sofort dein bester Freund’.“ Er kann seinen linken Arm nicht benutzen, das linke Bein ebenfalls kaum; es ist festgeschnallt am Rollstuhl. Seit vergangenem Frühjahr arbeitet er in den Neckartalwerkstätten, dort schneidet er Schläuche zurecht oder führt andere leichte Zuliefertätigkeiten für große Firmen aus. Früher spielte der gelernte Bankkaufmann gerne Fußball oder Darts.

Kein Rülpsen in der Öffentlichkeit

Für ihr Miteinander haben Marcus Barthel und Anton Hermann einige Regeln aufgestellt. Marcus Barthel rülpst nicht mehr in der Öffentlichkeit und gibt sich Mühe, nicht all seinen Frust an Anton Hermann auszulassen. Außerdem haben die beiden vereinbart, dass Barthel nicht sein komplettes Taschengeld für Zigaretten ausgeben soll. Seitdem kaufen die beiden gemeinsam Tabak und Barthel dreht seine Zigaretten selbst. Das spart etwas Geld.

Zugleich hat sich Anton Hermann angewöhnt, niemals Marcus Barthel unangekündigt irgendwo mit dessen Rollstuhl hinzuschieben. Er fragt jedes Mal nach, ob es losgehen kann – dadurch fühlt sich Barthel ernst genommen und nicht wie einer, über den andere einfach so bestimmen können.

„Durch das Ehrenamt und den Kontakt mit Körperbehinderten empfinde ich verstärkt Dankbarkeit für meine Gesundheit und die meiner Familie“, sagt Anton Hermann. Außerdem hat sich der Möhringer angewöhnt, den Mund aufzumachen: „Wenn nichtbehinderte Menschen – ohne Kinderwagen – mit dem Aufzug fahren, und dann keinen Platz machen für einen Rollstuhlfahrer, mache ich meinem Unverständnis Luft. Ich sage dann zu Marcus laut hörbar: ‚Du würdest die Treppen wohl liebend gerne hochsprinten – wenn du es könntest’.“

Begonnen hat alles mit der Demenz seiner Mutter

Anton Hermann engagiert sich an verschiedenen Stellen. Angefangen hatte alles vor zwölf Jahren mit seiner Mutter: „Als sie dement wurde, gab ich ihr das Versprechen, für sie zu sorgen.“ Mit 50 Jahren kündigte er seinen Job in der IT-Abteilung der Telekom in Leinfelden und kümmerte sich fünf Jahre lang um die Pflege seiner Mutter. Nach ihrem Tod erfuhr er, dass an der Margarete-Steiff-Schule ehrenamtliche Betreuer gesucht werden. „Ich wollte etwas Sinnvolles tun“, sagt er heute. Er meldete sich. Vergangenes Jahr hat ein Teil „seiner Knirpse“, bei denen er vor sieben Jahren angefangen hatte, die Schule verlassen. „Das machte mich einerseits etwas wehmütig, aber andererseits ist es auch schön zu sehen, was aus den Jungs geworden ist.“ Mit manchen hat er immer noch Kontakt.

Außerdem engagiert sich Anton Hermann in dem Bürgertreff Impuls in Leinfelden-Echterdingen und beim Stuttgarter Slow-Mobil, wo Kinder in einer Küche auf Rädern Spaß an gesunder Ernährung und am Kochen erlernen sollen. Und dann gibt es ja auch noch Marcus Barthel. Langweilig wird es Anton Hermann nicht. „Ich bin froh, dass ich mit 50 Jahren meinen zwar gut bezahlten, aber für mich nicht sehr befriedigenden Job aufgegeben habe. Ich habe es nie bereut, dass ich mich stattdessen für das soziale Engagement entschieden habe – auch wenn ich nun eine deutlich niedrigere Rente als meine früheren Kollegen erwarte.“