Heinz Weiss führte fast ein halbes Jahrhundert lang das vielleicht bekannteste Stuttgarter Lokal. Am Montag ist der Kneipier gestorben.

Stuttgart - Ranko Curin, der für alle nur Ranko ist, sitzt in der Bank neben dem Tresen. Er steckt sich eine Zigarette nach der anderen an. Leer fühlt er sich seit diesem Montag. "Wir waren Kumpels", sagt der 58-Jährige, "nein, eigentlich waren wir eher wie ein altes Ehepaar. Es ging niemals darum, dass Heinz den Chef gab und ich seinen Angestellten." Ranko ist nicht nur Kellner, er ist eine Figur in Stuttgart. Wer über Ranko spricht, der spricht automatisch auch über Heinz Weiss, den Besitzer des legendären Cafés Weiss unweit des Hans-im-Glück-Brunnens ». Am Montagmorgen ist Heinz Weiss gestorben, der Krebs hat ihn besiegt.

Draußen vor dem Café hängt ein schlichter Zettel im Schaukasten: "Wegen Todesfall - das Lokal bleibt bis auf weiteres geschlossen." Wie es weitergeht, ist im Moment ungewiss, die Familie trauert, Ranko trauert. Am 20. März nächsten Jahres hätte das Café Weiss sein fünfzigjähriges Bestehen gefeiert. "Heinz hätte das gerne mitgemacht", erzählt Ranko in jenem leicht gebrochenen Schwäbisch, das immer noch an seine kroatische Heimat erinnert. "Es wäre eine große Party geworden."

Daran zweifelt keiner, der jemals im Café Weiss den Einkehrschwung gemacht hat. Das Lokal hat viele Kapitel der Stadtgeschichte mitgeschrieben. An seinen Stofftapeten kleben zahllose Fotos, die an diese besonderen Momente erinnern. Sie zeigen den Schauspielintendanten Hasko Weber bei einer Lesung, sie zeigen den Buchhändler Wendelin Niedlich auf seinem Stammplatz und natürlich Heinz Weiss selbst. "Das ist sein Leben", sagt Ranko und deutet auf einen mit Fotos befüllten Bilderrahmen neben dem Tresen: Heinz Weiss mit Narrenkappe, mit weißen Tennissocken im Urlaub, vor allem aber im Lokal, das schon seinem Vater Alois gehört hat.

Das Café Weiss ist beileibe kein gewöhnliches Lokal in der Stadt. Es ist ein Ort, an dem Mythen geboren wurden. Ein Lokal, in dem Menschen jeglichen Alters und aus allen sozialen Schichten miteinander tranken. Dafür sorgte Ranko. "Wenn zehn Schwaben in einen Raum kommen, dann setzen sie sich an zehn verschiedene Tische", erzählt er. "So etwas erlaube ich hier nicht." Also setzt Ranko den Schauspieler neben den Steuerbeamten, den Bordellbesitzer neben die Polizistin.

Seit 50 Jahren offen für alle, die sich benehmen


Im Lokal haben alle Zutritt, die sich Rankos Anweisungen unterwerfen. Nur der Zeitgeist musste all die Jahre draußen bleiben: Blumenmuster überziehen die Samttapeten, Kronleuchter werfen ein mildes Pufflicht in den Raum, auf dem Tresen thront die Holzskulptur eines dickbäuchigen Mönchs. Über der Musicbox schwingt das Pendel einer Uhr, die auf jedem Flohmarkt Liebhaber finden würde. "Wir haben hier nie etwas verändert", sagt Ranko. Das Café Weiss ist aus der Zeit gefallen - in der schicken neuen Nightlife-Welt mit all den durchgestylten Bars und Lounges wirkt das Lokal wie ein Dinosaurier.

Aber nirgendwo sonst war das Nachtleben mit mehr prallem Leben angefüllt. Das lag auch an Ranko, dem Kellner, und Heinz Weiss, dem Besitzer - ihr Leben spielte sich zu einem großen Teil zwischen Zapfhahn und Musicbox, zwischen Halbwelt und Halbhöhe ab. Für die beiden war das Lokal ein zweites Wohnzimmer. Als Ranko in den 70er Jahren im Café Weiss anfing, gab noch das Milieu in der guten Stube den Ton an.

"Anfangs waren vor allem Schwule und Prostituierte unsere Stammgäste", erzählt Ranko. Heinz Weiss stand hinter der Bar, Ranko bediente an den Tischen - und die käuflichen Damen bahnten im Café Weiss den Kontakt zu den Herren an. Viele ihrer Kunden jedoch schafften es nur deshalb später aufrecht aus dem Lokal, weil sie links und rechts gestützt wurden.

Weiss hat sogar eine Schießerei überlebt


Ranko stößt Rauch aus und hustet wie eine alte Dampflok. Wer sich daneben benahm, bekam Lokalverbot. Unter Ranko war das Gesetz. Einmal wäre die Sache trotzdem fast schiefgegangen. "Ein Zuhälter hat den Heinz um ein Haar erschossen", erinnert sich Ranko. Der Mann geriet in Rage, zog plötzlich eine Pistole heraus und zielte auf einen anderen Gast. "Der Heinz ging dazwischen, da löste sich ein Schuss, der ihn nur knapp verfehlte."

Mehr als 30 Jahre später steigt Ranko auf eine der Sitzbänke und deutet auf eine Deckenverkleidung. "Hier war das Einschussloch, wir haben drübertapeziert." Wer Ranko zuhört, könnte meinen, einer Räuberpistole zu lauschen. Doch plötzlich trifft seine Erinnerung auf die Gegenwart: Die Tür des Cafés geht auf, ein älterer Mann mit Lederjacke und glitzernden Ringen an den Fingern betritt das Lokal. "Das ist der Mann, der geschossen hat", flüstert Ranko.

Zwei Tage nach dem Tod von Heinz Weiss hat die Nachricht in der Stadt die Runde gemacht. "Mich haben einige Leute angesprochen", erzählt Ranko, "manche dachten auch, ich sei gestorben". Viele wussten nicht, dass Heinz Weiss schon seit dem vergangenen Frühjahr schwer krank war. "Er ist nur noch selten ins Café gekommen, wenn Gäste da waren", erzählt Ranko. Heinz Weiss hinterlässt eine Frau, einen Sohn und einen Freund, der sich an seine warme Art erinnert, an die in sattem Schwäbisch geführten Gespräche und an den gelegentlichen Streit. "Altes Ehepaar halt." Wie es weitergeht für das Café und für Ranko, ist offen, der Kellner zuckt mit den Schultern, er blickt auf die Fotos an den Wänden.

Die alte Jukebox spielt ein Abscheidslied


Als die Geschäfte im Milieu Mitte der achtziger Jahre schlechter liefen, wurde das Café Weiss endgültig zur zweiten Bühne aller Kulturmenschen der Stadt. Immer wenn Ranko abends die Rollläden hochzog, stand Wendelin Niedlich schon vor der Tür. Der Buchhändler kam montags bis samstags, Ranko konnte die Uhr danach stellen. Niedlich orderte sein Bier, und wen es nachts ins Café Weiss verschlug, der sah, wie der Buchhändler auf seinem Stammplatz saß und die Menschen beobachtete. Für diese Tätigkeit konnte er in Stuttgart keinen besseren Platz finden.

Vor einigen Jahren schrieb Niedlich in einem Beitrag für die Stuttgarter Zeitung vom "aufregenden Lärm der Stille im Café Weiss zwischen 18 und 20 Uhr". Der Text gehört zu den poetischsten Stücken, die je über das Lokal verfasst wurden. Aus ihm stammen diese Gedanken: "Die Whiskys stehen in Reih und Glied, warten geduldig, werden erst später versinken in durstigen, singenden Kehlen. Nur der Bacardi scheint schon nervös gegen den Flaschenhals zu pochen, dem Herzklopfen nicht unähnlich, das ja auch selten hörbar ist. Heinz Weiss, einem der drei Anwesenden, läuft schon jetzt, in aller Stille, versteht sich, das Wasser im Munde zusammen. Die Zigarette des Kellners Ranko, des zweiten Anwesenden, bleibt in der Tasche verborgen."

Der Kellner sitzt immer noch auf der Bank, er erzählt von der Leidenschaft, mit der Heinz Weiss von der Haupttribüne herab seinen VfB anfeuerte. "Dauerkarte, na klar." Im Café Weiss kam das ganze bunte Leben der Stadt zusammen, zuletzt drehte hier ein Filmteam neue Folgen der Fernsehserie Soko Stuttgart. Der Comedian Michael Gaedt gab dabei den Kellner. "Er hat so auf Zuhälter gemacht", erzählt Ranko, der Gaedt abends immer wieder sein Bier hinstellte, wenn dieser als Gast und ohne Scheinwerferlicht ins Lokal kam.

Die Liste der Promis, die dem plüschigen Charme des Cafés Weiss erlagen, ist fast endlos: Rainer Werner Fassbinder, Campino, John Cranko, Walter Sittler und die halbe italienische Nationalmannschaft. Die kam am Vorabend eines entscheidenden Spiels der Europameisterschaft 1988, spendierte 230 Mark Trinkgeld und verließ das Lokal in weiblicher Gesellschaft. Am nächsten Tag schied sie aus dem Turnier aus. Ranko wirft Kleingeld in die Musicbox. Er drückt ein paar Tasten, und es läuft ein unbekannter Song, den Heinz Weiss fast täglich hören wollte und der Ranko nie gefiel. Heute spielt er ihn. Dann ist es still.