Der Blick von oben auf das Gebiet rund um die Wagenhallen in Stuttgart-Nord zeigt naheliegende Kontinuitäten – und kündet von großen Veränderungen.

S-Nord - Einmal mehr sind es Verkehrswege, die Luftbilder vom Stuttgarter Norden rahmen. Das historische von 1955 ebenso wie das 60 Jahre später entstandene. Links die Heilbronner Straße, rechts die Nordbahnhofstraße nebst den Schienenwegen. Letztere aktuell in neuer Ausprägung, als Baustellenvorhof für einen ins Unterirdische weisenden Bahnhof. Einem Zweck, dem nun selbst die diagonal durchschneidenden Stränge halbwegs zu dienen haben. Aber ist denn nicht nur eine Stadt, sondern das ganze Leben eine Baustelle, wie der einschlägige Film weiß, dessen Titel zum stehenden Wort wurde? Und der auch von der Ambivalenz der Sache kündet – zwischen Aufbruch und unvermeidbarem Ende. Naheliegende jedenfalls darüber hier zu sinnieren, denn die beiden Bilder haben am großen unteren Feld einen unverrückbaren Schwerpunkt für jene, die die alten Griechen „die Sterblichen“ nannten. Wobei der Pragfriedhof zugleich ein Bild vom historischen Werden dieser Stadt abgibt.

 

Das Werden in jüngerer Zeit dokumentiert im Farbbild der Zwickel zwischen Heilbronner Straße und Gäubahn, wo moderne Büro- und Gewerbebauten die ökonomische Attraktivität des Nordens und der Stadt insgesamt spiegeln. Im Mittelpunkt aber stehen die historischen Wagenhallen. Dunkel in Schwarz-Weiß, wie eine Reminiszenz an rußige Dampf- und Diesellok-Zeiten. Wie von einem Spot beleuchtet, ragen daneben die hellen Dächer mit ihren Oberlichtschlitzen aus dem Bild. So sollen sie auch bald wieder leuchten, denn aktuell ist von oben nur das Gerippe der Stahlkonstruktion zu sehen.

Der Norden beschert der Gesamtstadt etwas Neues

Die Wagenhallen sind eine Baustelle, die mit Macht einer substanziellen Transformation von deren einstigem Zweck zustrebt. Auf dem Luftbild ist erkennbar, dass die Hallen abgeschnitten sind vom Schienenzugang, dass die Funktion als Lokremise längst eine historische ist. Ein Befund, der sich schon im Schwarz-Weiß-Bild im finalen Vollzug befindet. Und nun ist eine Metamorphose im Gange, die städtebaulich einen solitären Ansatz bietet: Kulturhallen, die einen sozialen Nucleus für ein neu entstehendes Großquartier bilden sollen. Ein Vitalitätszentrum, das einmal nicht mühevoll implantiert werden muss, sondern schon da ist, wenn alles andere erst noch kommen muss, als von Beginn an ausstrahlen soll. Womit das Pferdchen in diesem erstaunlichen Fall einmal anders herum aufgezäumt wird – zum Aufgalopp für das künftige Rosenstein-Viertel am südöstlichen Rande des Stuttgarter Nordens. Der Norden beschert der Gesamtstadt damit etwas wahrlich Neues. So denn Stuttgart 21 als Tiefbahnhof an ein Ende kommen und das Gleisvorfeld dereinst frei werden sollte, wofür die Deutsche Bahn AG ja ständig neue Termine ausgräbt.

Das Kommen der württembergischen Eisenbahn und die zugehörige Industrialisierung des Südwestens waren zugleich der Ursprung des Pragfriedhofes. Denn als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zahl der Einwohner sprunghaft stieg, war auch erhöhter Platzbedarf für den Wechsel der Generationen. Die kleinen Friedhöfe waren zu klein, und erstmals nahm nun die Stadt anstelle der Kirchen die Sache in die Hand. So entstand an der Grenze zum damals noch selbstständigen Cannstatt der neue Zentralfriedhof. Mit rund 40 000 Grabstätten nun Stuttgarts größter Friedhof. Im Jahr 1871 eingeweiht, „mit einer feierlichen ersten Leich, im Beisein des Königspaars und zu den Klängen des Blasorchesters des Königin-Olga-Regiments“, wie Jörg Kurz in seinen „Nordgeschichte(n)“ schreibt.

Hommage an die historischen Seiten des Pragfriedhofes

Das Kapitel „Pragfriedhof“ ist dabei auch eine Hommage an die historischen Seiten des Pragfriedhofes. In der Darstellung „sehenswerter Grabstätten“ spiegelt es den Wechsel der Zeiten und erinnert an bedeutende Persönlichkeiten, die in der Stadt gewirkt hatten oder mit ihr verbunden waren: von A bis Z, also von der Operndiva Anna Sutter bis zu Graf Zeppelin. Dazwischen Künstler wie Willi Baumeister oder Demokraten wie Wilhelm Blos und der von den Nazis ermordete Eugen Bolz. Oder Eduard Mörike, an dessen Grabstätte man unwillkürlich die „schwarzen Rösslein“ traben hört. Und sich dann wieder dem zuwendet, was neu werden will und soll. Auf welcher Baustelle auch immer.