Auf dem Stuttgarter Marienplatz wird an diesem Sonntag die Demokratie besungen. Alle sind eingeladen, „aus voller Kehle“ mitzusingen – auch diejenigen, die eher schräge Töne beitragen.
Bekannt ist Patrick Bopp von der A-Capella-Band Füenf. Außerdem organisiert er verschiedene Mitsing-Formate. An diesem Sonntag, 2. Juni, leitet der Musiker und Sänger auf dem Stuttgarter Marienplatz um 12 Uhr einen Chor der Demokraten – eine Aktion des Bürgerprojekts „Stuttgart Hand in Hand“. Gemeinsam mit der Sängerin Marie Louise und möglichst vielen Laien-Sängern will Patrick Bopp „die Kraft des demokratischen Miteinanders spürbar machen“ und die Bürger ermutigen, am 9. Juni demokratisch zu wählen. Im Interview erklärt er, was ihn bewegt.
Herr Bopp, die Stimme für die Demokratie erheben, ist wichtig. Aber muss es gleich Gesang sein?
Selbstverständlich gibt es viele Spielarten, um die Demokratie zu feiern und sichtbar zu machen. Gesang eignet sich jedoch besonders gut, da beim Singen bestimmte Synapsen im Gehirn blockiert werden – zum Beispiel die der Angst – und wir dadurch in einen gesunden und neutralen Abstand zu uns selbst und unserem Gegenüber kommen. Durch Singen kann man im Alltag verdrängte Emotionen spüren und sie in aller Klarheit äußern. Wenn man gemeinsam singt, hört man einander auch zu – eine Fähigkeit, die verloren zu gehen scheint. Singen als neuer Demonstrationstypus setzt auf aktives Mitwirken statt auf passives Zuhören. Auf diese Art wollen wir parteiübergreifend „Ja“ sagen zur Demokratie mit all ihren Mühen und Anforderungen an uns und gleichzeitig die Dankbarkeit spüren, dass wir frei in einer Demokratie leben und das in all unserer individuellen Unterschiedlichkeit und Vielfalt. Wir wollen damit auch zeigen, dass menschenunwürdiges Reden und Tun in unserer Demokratie nichts zu suchen haben und wir der rechten Hetze und dem Hass nicht tatenlos zusehen und schon gar nicht dazu schweigen.
Was, wenn Musik für rechte Hetze und rassistische Parolen missbraucht wird, wie jetzt auf Sylt und anderswo geschehen?
Dann muss dem ganz entschieden etwas entgegengesetzt werden. In der NS-Zeit wurde Musik gezielt missbraucht, um die Wirkung und Emotionalität der nationalsozialistischen Ideologie zu verstärken. Diese perfide Manipulation spüren wir heute noch; wir sind da immer noch im Verarbeitungsprozess. Viele Menschen sind in den Nachkriegsjahren verstummt und haben sich nicht mehr getraut gemeinschaftlich zu singen – aus Angst, dass Singen in der Gruppe mit dieser schlimmen Zeit in Verbindung gebracht wird. Davon müssen wir uns befreien. Wir dürfen nicht zulassen, dass Lieder von rechts gekapert und manipulativ verwendet werden. Auf dem Marienplatz werden wir bei zwei traditionellen Liedern selbst verfasste Strophen hinzufügen, um klarzumachen, auf welcher Seite wir damit stehen. Allein dadurch, dass wir alle aus dem Herzen singen, werden wir eine Botschaft der Menschlichkeit und des Miteinanders aussenden – auch als kraftvoller Gegenpol zu den erschreckenden Bildern von Sylt. Mit unserer Veranstaltung wollen wir Mut machen und die Menschen so erreichen, ob jung oder alt, dass sie am 9. Juni wählen gehen und einer wirklich demokratischen Partei ihre Stimme geben.
Mit welchen Liedern besingt man die Demokratie am besten?
Wir werden viele unterschiedliche Lieder singen – von eher traditionellen Stücken bis hin zu aktuellen Popsongs. Bei der Auswahl haben wir uns an den Grundwerten wie Freiheit, Gleichheit, an dem Recht auf Asyl und dem Widerstandsrecht orientiert. Zwischendurch wird es sicher auch sehr spaßig zugehen, denn auch Humor ist in der Demokratie ja ein hohes Gut. Und wenn es schon ein aktuelles Lied mit Namen und Inhalt „Demokratie“ von den Ärzten gibt, darf das natürlich nicht fehlen.
In Waiblingen haben Sie die Demokratie bereits besungen. Wie lief die Generalprobe dort?
Das war eine sehr schöne und bunte Veranstaltung. Die Offenheit und Bereitschaft der Mitsingenden hat mir sehr viel Hoffnung und Lust auf das Singen am Sonntag auf dem Marienplatz gemacht.
Mit wie vielen singenden Stuttgartern rechnen Sie?
Wir hoffen auf 500 bis 1000 Menschen. Falls es mehr werden, freuen wir uns darüber natürlich. Die Texte werden auf eine große LED-Wand projiziert und zusätzlich wird es die Möglichkeit geben, die Präsentation als PDF aufs Handy herunterzuladen.
Und wer nicht singen kann?
Der kommt erst recht und ist besonders willkommen! Anfangs wollten wir die Veranstaltung „Mit starker Stimme . . .“ nennen. Das kann jedoch missverstanden werden und deshalb singen wir jetzt „Aus voller Kehle…“ – mit allen Zwischentönen und schrägen Tönen. Gegen rechts ist das besonders passend.
Jeder kann singen?
Ja, jeder hat eine Stimme und alle klingen unterschiedlich. Indem man die eigene Stimme benutzt, zeigt man sich automatisch mit seiner Persönlichkeit – in diesen Zeiten besonders wichtig. In einer großen Gruppe braucht es auch keine Überwindung; man wird automatisch in den Gesamtklang eingesogen. Mein Appell: Traut Euch, zeigt Euch und positioniert Euch mit uns für die Demokratie, die Menschenrechte und für Europa!
Patrick Bopp
Werdegang
Patrick Bopp, 1971 in Karlsruhe geboren, macht nach eigenen Worten „Musik seit er allein auf den Klavierhocker klettern kann“. Er war erfolgreicher Teilnehmer bei „Jugend musiziert“ und anderen Talentwettbewerben. Von 1992 bis 1997 studierte er in Stuttgart Klavier und Ensembleleitung. Er ist Gründungsmitglied des erfolgreichen Stuttgarter A-Capella-Quintetts Füenf, das in diesem Jahr auf Abschiedstour ist. Seit 2019 dirigiert er das große Weihnachtssingen im Stuttgarter Gazi-Stadion mit Tausenden Teilnehmern.
Soziales Engagement
Bopp verbindet Musik mit sozialem Engagement. Er leitet den Chor der Vesperkirche Stuttgart (rahmenlos & frei) und verschiedene andere Chorprojekte. Unter dem Titel „Reif für die Insel“ bietet er im Sommer ein Gesangsprojekt für Menschen an, die in den Sommerferien nicht wegfahren können. Außerdem hat er eine monatliche Mitsing-Show mit dem Titel „Aus voller Kehle für die Seele“. red