In Zeiten der Wohnungsnot, spricht kaum jemand von Frischluftschneisen. Dabei lassen sich Wohnen und Atmen nicht gegeneinander aufrechnen. Auf Spaziergang mit einem Klimatologen.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-Süd - Zwischen dem gläsernen Bauknecht-Hochhaus und der Torwiesenschule zieht es wie Hechtsuppe, und das tut gut an diesem drückend heißen Sommerabend. Haare wehen, Jacken plustern sich auf. Die Gruppe um den Naturfreunde-Mann Werner Schmidt steht mitten im Windkanal, am Vogelrain – sozusagen mitten in der Lunge der City.

 

In diesen Zeiten liest man viel von der Wohnungsnot, von dramatisch gestiegenen Mieten und unbezahlbarem Wohneigentum, von fehlenden Bauplätzen und von Heilung durch Nachverdichtung. Die Frage nach der Frischluft droht auf der Prioritätenliste nach hinten zu rutschen. Aber Wohnen und Atmen kann man nicht gegeneinander aufrechnen. Da erschien es den Naturfreunden politisch offenbar angezeigt, mal wieder daran zu erinnern, woher in Stuttgart eigentlich der Wind weht. Sie luden zu einer abendlichen Exkursion nach Heslach zur Luftschneise Heideklinge ein, fachkundig begleitet von dem Klimatologen Rainer Kapp vom Umweltamt.

Kaltluftkissen plumpst ins Tal

Wenn der Wind fehlt, bleibt der Dreck in der Stadtluft hängen: Kohlenstoffmonoxid, Kohlenstoffdioxid, Schwefeloxide, Stickoxide, Schwermetalle, Staub, Ruß, Chlor, Fluor, Phosphor und Feinstaub – um nur die wesentlichen Abgasstoffe zu nennen. Ohne Puste ist kein Entweichen aus dem Stuttgarter Talkessel. Außerdem, sagt Reiner Kapp, kühle es nachts nicht ab, „was zu schlechtem Schlaf führt“.

Doch wälzt sich des nachts eine Kaltluftfront von Vaihingen hinab durchs Nesenbachtal bis in die City. Bis zu 60 Meter Höhe und Breite schichtet sich die Kaltluft im Laufe der Nacht auf zu einer unsichtbaren Wand und bringt frische Luft überall dorthin, wo ihr sich nichts in den Weg stellt. Der Wald oberhalb kühlt nachts ab, „ein Kaltluftkissen bildet sich und fällt entlang der Talkante ins Nesenbachtal“, erklärt Kapp. Heidenklinge nennt sich der Frischluftkanal. „Der Kaltluftstrom kriecht weiter entlang der B 14 in die Innenstadt“, wo er dann immer mehr zerfasert und schließlich im Rosensteinpark verebbt. Unterwegs verdünnt er die schadstoffbelastete Luft, tauscht sie aus, kühlt sie herunter. Ein Teil des Stroms zweigt schon in der Schickardtstraße ab und wälzt sich über den Hasenbergbuckel, um schließlich am Allianz-Gebäude abzuprallen. Im Westen kommt dann nicht mehr viel von der Frischluft an, wie Kapp erläutert.

Der Dreck von der Brücke saust mit

Zwei Faktoren behindern Kaltluftströme: „Mechanische Widerstände wie Bauwerke und warme Oberflächen, die die Kaltluft erwärmen“, erläutert der Klimatologe Kapp. Schon in Heslach bremsen die ersten Häuser die Luftlawine ab, und die Brücke der B 14 zwischen Heslacher Tunnel und Schattenring durchschneidet die Kaltluftwand regelrecht.

Werner Schmidt von den Naturfreunden Heslach erinnert sich, wie er und seine Mitstreiter 1994 gegen das Bauwerk angekämpft haben. „Die Heideklinge wird ihre Funktion als Frischluftschneise, über die nächtliche Kaltluft aus dem Gebiet des Glemstals in das Nesenbachtal gelangt, verlieren“, hatten sie seinerzeit prophezeit. So schlimm ist es dann nicht gekommen, noch wird die Innenstadt über diesen Kanal durchlüftet. Doch auch der Klimatologe Reiner Kapp betrachtet die Brücke als Hindernis – nicht allein, weil sie die Kaltluftfront durchtrennt und damit abschwächt, sondern auch, weil die Abgase von der Brücke mit dem Luftstrom in die Stadt getragen werden.

Die Frischluftschneisen in der Stadt – und die Heideklinge ist die bedeutsamste von allen – erfüllen zentrale klimatische Funktionen in der Stadt, so Kapp. „Klingen und Seitentäler sollten aus klimatologischer Sicht ganz von der Bebauung ausgenommen werden.“ Denn es gebe ansonsten nur wenig Durchzug, weil Süddeutschland und Stuttgart im besonderen eine der windärmsten Regionen der Bundesrepublik seien. Trotzdem ist der städtische Angestellte der Ansicht, „man sollte nach keiner Seite überziehen“: Stadtplaner müssten gleichsam die Belange des Naturschutzes und die Anforderungen an die Infrastruktur unter einen Hut bringen: „Wir leben hier ja schließlich in einer Großstadt, nicht auf dem Land.“