Ein Buch erinnert an die 1944 ermordete Widerstandskämpferin aus Luginsland. Michael Horlacher und Günter Randecker haben über hundert Briefe, Fotos und Dokumente verarbeitet.

Luginsland - E s sei eine Geschichte, die unter die Haut geht, meint Michael Horlacher, der zusammen mit Günter Randecker Herausgeber eines kleinen Buches ist: Erzählt wird darin auf 136 Seiten das Schicksal einer tapferen, schwäbischen Widerstandskämpferin in den Jahren 1933 bis 1944. Es ist Gertrud Lutz, geborene Schlotterbeck, gewidmet.

 

Der Name ist in Untertürkheim unvergessen: Zehn Mitglieder der kommunistischen „Widerstandsgruppe Schlotterbeck“ wurden am 30. November 1944 im KZ Dachau wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ hingerichtet – darunter Gertrud Lutz und ihre Eltern Gotthilf und Maria Schlotterbeck. Ihr Bruder Hermann Schlotterbeck wurde im April 1945 erschossen. Allein ihr Bruder Friedrich (Frieder), der in die Schweiz geflüchtet war, überlebte. Heute erinnern eine Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus in der Annastraße 6 in Luginsland sowie ein Mahnmal auf dem Friedhof Untertürkheim an die Familie. Michael Horlacher hat deren Schicksal sehr berührt. Frieder Schlotterbecks Buch „Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne“ habe ihm vor Augen geführt, dass „nicht nur in München oder Berlin, wie es die Schulbücher schreiben, mutige Menschen bereit waren, gegen das Naziregime zu kämpfen“, erzählt er. „So greifbar hatte ich noch nie eine Vorstellung bekommen, wie das Leben für Widerstandskämpfer hier in Stuttgart vor unserer Haustüre gewesen ist.“

Das Kind braucht einen Vater

Das Buch endet mit dem Satz „das Kind braucht einen Vater“. Diese Frage habe ihn seit Mitte der 1980er-Jahre immer wieder beschäftigt, wenn er das Buch zur Hand nahm, berichtet Horlacher: Was wurde aus Wilfriede, der Tochter von Gertrud Lutz? Und er fand Antworten. Friedrich Schlotterbeck kam aus der Schweiz zurück nach Stuttgart und fand das Elternhaus leer vor. „Die Nachbarin eröffnete ihm die grauenvolle Nachricht, dass die ganze Familie hingerichtet wurde. Er nahm sich seiner Nichte Wilfriede an, die in Grabenstetten bei der Familie Keller eine Heimat gefunden hatte“, schreibt Horlocher in seinem Vorwort zum Buch.

Frieder Schlotterbeck wurde Präsident des Württembergischen Roten Kreuz – und wurde er als überzeugter Kommunist angefeindet, was ihn dazu bewog, 1948 mit seiner späteren Frau Anna und Wilfriede nach Dresden zu übersiedeln. „Aber auch dort fand er sich Anfang der 1950er-Jahre wieder Anfeindungen ausgesetzt.“ 1953 wurden er und seine Frau wegen verbrecherischer Beziehungen zu einem amerikanischen Agenten zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, Wilfriede Lutz kam in ein Kinderheim. 1956 wurden beide aus der Haft entlassen und parteiintern rehabilitiert. Sie lebten als Schriftsteller und Hörspielautoren fortan in der DDR. Frieder Schlotterbeck starb dort 1979.

Zu Besuch bei der Tochter

Durch seine Recherchen wurde Horlacher auf Günter Randecker aufmerksam, der sich ebenfalls seit Jahren mit der Geschichte der Widerstandsgruppe Schlotterbeck beschäftigte. „Gemeinsam nahmen wir Kontakt zu Wilfriede Hess, geborene Lutz, auf.“ Tatsächlich kam es zu einem Treffen: „Am 18. September 2009 öffnete uns eine strahlende, sympathische Frau mitten in Berlin die Tür. So saßen wir dem Kind, das einen Vater braucht, gegenüber.“ Wilfriede Hess erzählte den beiden einen ganzen Tag lang aus ihrem Leben, beantwortete geduldig Fragen, führte sie zum Wohnhaus der Schlotterbecks in Groß Glienicke und zum Grab auf dem dortigen Friedhof. „Am Abend flogen wir zurück nach Stuttgart mit dem ganzen Archiv – über hundert Briefe, Fotos und Dokumente.“ Aus dem Material haben Horlacher und Randecker ein Gedenkbuch erarbeitet und zum 100. Geburtstag von Gertrud Lutz am 17. September 2010 im Eigenverlag herausgegeben. „Auf vielfache Nachfrage“ ist jetzt die dritte, erweiterte Auflage erschienen.

Bewegende Geschichte

Es zeichnet das Leben einer unbeugsamen, mutigen Frau nach: Gertrud Schlotterbeck, Jahrgang 1910, wurde nach der Machtübernahme durch die Nazis wegen ihrer Überzeugung und ihren politischen Tätigkeiten mehrmals inhaftiert. Nach ihrer Haftentlassung im Dezember 1936 zog sie in eine Wohnung Auf dem Haigst 6 nach Degerloch – vor dem Haus ist mittlerweile ein Stolperstein verlegt. 1938 heiratete sie Walter Lutz, am 2. August 1942 wurde ihre Tochter Wilfriede geboren. Kurz darauf fiel ihr Ehemann im Krieg. Als die Bombenangriffe zunahmen, zog Gertrud Lutz mit ihrem Kind zur Bauernfamilie Keller auf die Schwäbische Alb. Am 10. Juni 1944 war sie mit Wilfriede zu Besuch im Elternhaus in Luginsland – da fuhr die Gestapo vor und verhaftete alle Anwesenden. Bis zur Überstellung nach Dachau war Lutz in Stuttgart im Gestapo-Gefängnis eingekerkert. Die zweijährige Wilfriede kam zunächst in ein NS-Kinderheim in Waiblingen. Nach zwei Monaten setzte Familie Keller durch, dass sie wieder zu ihnen nach Grabenstetten kam.

„Welch bewegende deutsche Geschichte“, findet Horlacher. Damit diese nicht in Vergessenheit gerät, sind in den kommenden Wochen viele Lesungen geplant – auch in Luginsland. Die Termine stehen allerdings noch nicht fest.