Anonymität in der Hochhaussiedlung von Stuttgart-Asemwald? Mitnichten. Wer hier wohnt, kommt ums Grüßen nicht herum. Für die Luftbildserie „Stuttgart von oben“ haben wir einen Morgen inmitten einer schrecklich großen Familie verbracht.

Asemwald - Filderidylle an einem Sommermorgen: Über die hügelige Ebene breiten sich grün die Maisfelder, blau das Kraut und gelbgolden der Weizen aus. Und dann, wie aus dem Nichts, ragen hunderte Quadratmeter von Waschbetonplatten auf bis zu 23 Etagen aus dem Boden empor, nur unterbrochen von bienenwabenähnlichen Balkonen mit unterschiedlich ausgeblichenen roten und orangefarbenen Markisen. Wie drei Giganten wachsen die Wohnblöcke der Siedlung Asemwald aus dem Acker zwischen Plieningen und Birkach. Wahrscheinlich sieht man den Asemwald noch aus dem Weltall, leicht nordwestlich der Chinesischen Mauer, so denkt man als ortsfremder Passant. „Ein neuer Typus Mensch für Hannibal“, so formulierte bereits in den 60er Jahren eine regionale Tageszeitung ihre Sorgen – der Verweis auf den karthagischen Feldherrn Hannibal, der gegen die Römer mit Elefanten über die Alpen zog, dabei als Vergleich für die Monstrosität der Planungen. Wie menschenwürdig würde Wohnen werden in einem der bis heute größten Wohnprojekte der Republik, für das bis Anfang der 1970er Jahre in drei Hausblöcken mehr als 1100 Wohnungen aus dem Boden gestampft wurden. Was macht die Monumentalität der Bauten mit den Bewohnern?

 

Trotz der 1100 Wohneinheiten kennt man sich hier

„Kann man Ihnen helfen, was suchen Sie denn?“ Freundlich unterbricht die Seniorin ihren samstäglichen Gang zum Einkaufen, als sie die Reporterin entdeckt. Trotz der mehr als 1100 Wohneinheiten, das wird schnell klar, kennt man sich hier. Fremde Gesichter fallen auf. Der Plausch vor dem Hauseingang des Blocks C wird deswegen ständig unterbrochen: von einem „Grüß Gott Frau Schmidt“, einem „Herr Müller, was macht der Fuß?“ und „Ach wie schön, haben Sie wieder Besuch von den Enkele?“. Ihren Namen möchte die Dame, eine Ur-Asemwälderin, nicht sagen. Aber sonst fast alles. Warum das Wohnen für sie hier nach wie vor „ideal“ ist: „Sie haben alles vor der Haustür: Bäcker, Supermarkt, Friseur, Krankengymnastik, Massage, Schwimmbad. Ich mache jede Woche einmal Qi Gong.“ Warum das Wohnen alles andere als anonym ist: „Nur drei Parteien pro Aufzugseinheit, da kennen Sie Ihren Nachbarn, da helfen Sie sich.“

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Einmal im Monat, und das schon seit Jahren, treffen sich die Damen ihres Treppenaufgangs zum Kaffeeklatsch beim Bäcker. Und warum sich der Asemwald entgegen aller Unkenrufe nicht zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt hat: „Zum Großteil wohnen die Besitzer selbst in den Wohnungen.“ Und wer hier wohne, der kümmere sich. Außerdem sei das Wohnen nicht gerade billig. „Hier im Haus ist eine 80-Quadratmeter-Wohnung zu vermieten: 950 Euro kalt, plus 50 Euro Stellplatz plus 250 Euro Nebenkosten.“

Es sind vor allem Bewohner im Rentenalter, die an diesem Samstagmorgen in der Einkaufspassage vor dem Block A unterwegs sind. Die Rollatoren-Dichte ist hoch. Man grüßt sich freundlich und unterstützt einander geduldig beim Rangieren, etwa vor dem Korridor aus Gemüsekisten vor dem griechischen Delikatessengeschäft. „Fahret Se ruhig durch, I han Zeit.“

Der Asemwald führt in den Stuttgarter Statistiken mit weitem Vorsprung die Altersskala an: 61 Jahre alt ist der Durchschnittsbewohner im Asemwald. Und daran wird sich auch so schnell nichts ändern. Zwar ist der Bewohnerwechsel in vollem Gange, denn die Erstbezieher sterben langsam aus. Aber auch viele Neubürger sind nicht mehr jung: Sie kommen, weil ihnen der Garten und das eigene Häuschen zu viel werden und sie für den Lebensabend eine komfortable, aber überschaubare Immobilie wollen. Wie fühlt sich da die Jugend?

Nah an der Natur – und nah an der Stadt

Alexandra Wessling ist 16 Jahre alt. Seit sie elf ist, besucht sie alle zwei Wochen mit ihren Geschwistern den Vater. „Mir gefällt es.“ Es sei ruhig hier, man sei sofort mit dem Hund in der Natur. Und trotzdem schnell genug in Stuttgart. Ihre Schwester etwa nutze regelmäßig die Busanbindung, um freitag- und samstagabends ins Nachtleben zu schwirren. Nur zu Beginn hätten sich die Nachbarn einmal beschwert, dass es zu laut gewesen sei. „Als Familie mit Kindern und Hund ist man eben manchmal etwas lauter.“ Doch die Nachbarn seien gesprächsbereit gewesen, inzwischen sei das Problem aus der Welt. Eine andere junge Frau, ebenfalls weit diesseits der 35 Jahre mag die persönliche Ansprache im Asemwald auch. „Wenn ich morgens zum Bus gerannt bin, dann habe ich immer schon mindestens drei Nachbarn gegrüßt. Da fahre ich mit einem ganz anderen Gefühl zur Arbeit“, findet sie.

Man spricht die Dinge des Gemeinschaftslebens an. Das hat Claus Röttig schnell bemerkt. Vor fünf Jahren ist der Anfangsfünfziger in den Block A gezogen – und wurde von Nachbarn sofort darauf hingewiesen, dass er den Sperrmüll doch bitte nicht links vom Hauseingang platzieren solle – denn da seien die raren Besucherparkplätze, und die sollten doch frei bleiben. Ein Freund, der ihm beim Umzug half und sein Navi bei laufendem Motor im Auto sitzend programmierte, lernte von einem anderen Anwohner, dass man dies doch auch in umgekehrter Reihenfolge machen könne. Röttig lacht. Diese Art von Korrektheit könnte anderswo als Pedanterie empfunden werden. Aber auf der anderen Seite bedeute sie für ihn auch, dass sich die Bewohner kümmern. Die gemeinsame Sorge um den Zustand des gemeinschaftlich genutzten Raumes, sie ist für ihn der Schlüssel dazu, dass sich der Asemwald eben nicht zu einem Brennpunkt entwickelt habe.

Er hat den Einzug in den Wohnturm nie bereut

„Kommen Sie mit“, sagt er und lädt ein zu einem Gang in die Lobby seines Hausaufgangs. „Schauen Sie, der Geschenketisch, so nenne ich den immer“, sagt Röttig und deutet auf einen Holztisch vor einer lichtdurchfluteten Glasfront. Hausbewohner legen dort Bücher für diejenigen aus, die kurz verweilen möchten. Aktueller Lesestoff unter anderem: eine Einführung in die klassische Musik über die Werke von Brahms, Beethoven und Mozart, ein Notenheft mit Schubertliedern. Man gibt sich kultiviert. Und: korrekt. „Dieses Tuch wurde uns auf den Balkon geweht“ steht als Anmerkung über einem säuberlich platzierten Wischlappen, unterschrieben von einer Familie aus dem vierten Stock.

„Noch vor fünf Jahren hätte ich mir nie vorstellen können, in einem Hochhaus zu wohnen“, sagt Röttig. Als er, seinen Umzug nach Stuttgart planend, über die Filderebene radelte und am Asemwald vorbeikam, war er erschlagen von der Monumentalität. Doch auf einer seiner Touren machte er einmal halt – und wurde von einer Ur-Asemwälderin zur spontanen Wohnungsführung eingeladen. „Die hat mich, einen Fremden, einfach so in ihre Wohnung gelassen“, sagt er. Mittlerweile glaubt er, dass solcherart geplante Hochhaussiedlungen wie der Asemwald die Zukunft sind. Wenig Flächenverbrauch – und wenn es planvoll angegangen wird, auch keine Anonymität. „In den USA bestaunen wir die Wolkenkratzer, aber zurück in Deutschland verbinden wir sie mit sozialem Brennpunkt.“ Kennt er die Namen seiner Nachbarn? „Aber klar“, sagt er, lacht und nennt Nachnamen, Vornamen, Alter, Einzugsdatum und einiges mehr. Es sei eben ein bisschen wie in einer großen Familie hier.

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