Sind das Geschenke oder kann das in den Müll? In einigen Straßen in Süd und West ist es den Leuten zur Gewohnheit geworden, ausrangierten Hausrat in einer Kiste an die Straße zu stellen, damit Passanten sich davon bedienen.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West - Der Karton steht schon eine Weile an der Hauswand. Die brauchbaren Sachen waren binnen Stunden weg. Übrig blieben ein Bierseidel, ein paar irre gemusterte Untertassen, in den jetzt das Wasser steht und ein vom Regen aufgedunsener Reiseführer Anatolien. In einigen Straßen in Süd und West ist es den Leuten zur Gewohnheit geworden, ausrangierten Hausrat in einer Kiste an die Straße zu stellen, damit Passanten sich davon bedienen. Bei Elektrogeräten findet sich gern der Hinweis „Noch voll funktionsfähig!“ Die Spender hegen ein gewisses Interesse daran, dass ihre Gaben weitere Verwendung finden und nicht in der Tonne enden.

 

Müll oder Geschenke?

Seit vielleicht zwei Jahren lässt sich eine rasante Zunahme der Mitnehmkisten beobachten, ganz besonders nach Flohmarktveranstaltungen, wenn die privaten Händler keine Lust haben, die zuvor ausgemusterten Kleider, Bücher und Haushaltsgegenstände wieder daheim einzusortieren. Ein Zu-Verschenken-Zettel bietet eine einfache Lösung, mit der man unbeschwert und guten Gewissens nach Hause gehen kann. Denn der Zettel markiert den entscheidenden Unterschied zur rücksichtslosen Müllentsorgung am Straßenrand.

Ökonomisch betrachtet, handelt es sich freilich um nichts anderes als um Müll, der bislang halt in der Wohnung gehortet wurde. Diese Gesellschaft wirft nämlich nicht nur gern und viel weg, sie schätzt auch das Sammeln: Viele Menschen bringen es nicht übers Herz, eine albtraumhaft gemusterte, ansonsten einwandfreie Bettwäsche in die Tonne zu geben oder eine intakte Kaffeemaschine zum Sperrmüll, obwohl die neue längst im Einsatz ist. Die Aussicht auf eine Art Reinkarnation dieser Dinge in einem fremden, sicher bedürftigen und ganz bestimmt unendlich dankbaren Haushalt, hat beruhigende Wirkung. Die Kisten, so die Mutmaßung, sind kein singuläres Phänomen. Vielmehr sind sie eines von zahlreichen Symptomen für eine gewandelte Mentalität. Aller spätestens nach der weltweiten Finanzkrise hätten die Menschen begriffen, dass das ewige Streben nach dem Maximum nicht mehr funktioniere, behaupten Soziologen. Tendenziell werde das eigene Konsumverhalten kritischer beäugt. Die Menschen strebten nun Nachhaltigkeit an.

Sammler und Wegwerfer

Insbesondere jüngere Generationen sind für solche Gedanken empfänglich. So erstaunt kaum, dass man die Kisten just in den hipperen Vierteln Stuttgarts findet, wo viele junge Leute wohnen. Die nachhaltige Haltung schlägt sich auch in anderen Bereichen nieder – insbesondere in der Tausch-Ökonomie. Deren großer Umschlaghafen ist das Internet – ob es nun um Kleidertauschbörsen, Mitfahrgelegenheiten, Carsharing oder Wohnen auf Zeit geht. Gebrauchtes gilt als akzeptabel. Also warum nicht die Teekanne aus der Grabbelkiste am Straßenrand mitnehmen?

Mit dem Schenken scheinen die Kisten indes wenig zu tun zu haben. Denn Schenken, so der Soziologie-Professor und Buchautor Gerhard Schmied „dient weltweit dazu, Beziehungen zu erhalten und zu stärken“. Der Austausch von Gaben sei der Kern des Zusammenlebens und der Beginn friedlicher Zivilisation. Bei den Mitnahme-Kisten weiß der Spender aber gar nicht, wer seine zerlesenen Bücher mitnimmt. Wie soll da eine Beziehung entstehen? Oder sind die Kisten als eine Art symbolische Umarmung der gesamten Nachbarschaft zu verstehen? Als friedvoller Gruß an jeden Passanten? Mancher Schenker sonnt sich vielleicht in dieser Heilsbringer-Aura. Anderen ist wohl schon klar, dass sie einfach bloß den Müll runtergebracht haben.