Ein gutes Benehmen ist kein Talent, mit dem man geboren wird. Wer grüßt zuerst? Steht eine Frau auch auf, wenn ihr der Chef die Hand reicht? Mit solchen Fragen haben sich die Schüler des Wirtschaftsgymnasium befasst – mit großer Begeisterung.

Lokales: Sybille Neth (sne)

S-West - Der Chef trägt eine Krone. Emre Türköz hat sie auf dem Kopf, sitzt auf dem Ehrenplatz und wünscht einen guten Appetit. Danach kehrt sofort Stille ein an der langen Tafel im Klassenzimmer, denn jetzt löffeln die Mitschüler der elften Klasse am Wirtschaftsgymnasium West ganz konzentriert ihre Gemüsesuppe. Lange haben sie auf diesen Moment gewartet und bei vielen ist die Vorspeise sogar kalt geworden, bis alle Portionen serviert waren.

 

Damit nicht genug: Essen kann anstrengend sein, wenn man wie hier den Löffel im Rahmen eines Knigge-Kurses zum Mund führt. „Keine Ellbogen, keine Unterarme auf dem Tisch!“ Dem Benimm-Trainer Tim Höchel entgeht kein Fauxpas, und sei er auch noch so klein. „Sitzen Sie aufrecht, spannen Sie die Bauchmuskulatur an – und bitte Ellenbogen zusammen“, lautet die Anweisung für die korrekte Haltung am Tisch, nicht nur bei der Suppe.

Nebenbei lernen sich die Schüler gegenseitig kennen

Beim gemeinsamen Essen lernt man sein Gegenüber kennen und beim Essen zeigt sich besonders deutlich, wer Benehmen hat und wer nicht. Das gilt nicht nur im Geschäftsleben, sondern auch in der Schule. Deshalb hat die Lehrerin Almuth Haellmigk vor sechs Jahren den Knigge-Kurs für Schüler am Wirtschaftsgymnasium eingeführt. Allerdings versteht die Abteilungsleiterin den Benimm-Kurs nicht nur als Lerneinheit, sondern als Möglichkeit, die Kommunikation unter den Jugendlichen zu fördern. Im Wirtschaftsgymnasium sind in der elften Klasse alle neu und einander fremd, denn alle haben vorher andere Schulen besucht und beginnen jetzt neu.

Einen ganzen Vormittag lang hat Höchel, der Geschäftsführer der Stuttgarter Eventagentur Full Moon ist, die Schüler in Benimmfragen unterrichtet: Wer darf das Du anbieten? Wer grüßt zuerst? Wer gibt als erster die Hand? Steht eine Frau auch auf, wenn ihr der Chef die Hand reicht? Wie wird einem Asiaten korrekt die Visitenkarte überreicht? Höchel weiß, dass Jugendliche keinen Vortrag, sondern Action wollen, auch wenn es um eine Lektion in Etikette geht. Deshalb ist sein Knigge-Kurs teilweise als Quiz gestaltet. Die Verlierer müssen danach das Essen servieren. Dieses Mal traf es die Mädchen. „Zum ersten Mal“, stellt Höchel fest. Aber die Jungs zeigen sich als Kavaliere und übernehmen trotz ihres Sieges die Aufgabe. „Denken Sie daran, immer von rechts servieren!“, ruft Höchel.

Andrea Sodde ist an diesem Tag mit weißem Hemd, Fliege und Weste in der Schule erschienen und gibt damit den perfekten Ober. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, einen Knigge-Kurs zu besuchen“, sagt er. „Aber das hier ist gut für die Zukunft.“ Dazu gehört nicht nur, dass er hier erfährt, dass Brot niemals in die Suppe getunkt werden darf, sondern dass Höchel mit den Jugendlichen am Vormittag auch besprochen hat, wo die Offenheit bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken ihre Grenzen haben sollte.

Familien, die im Liegen vor dem Fernseher essen

„Ich habe viel erfahren“, freut sich Nicole Maric. „Ich decke zuhause zwar auch den Tisch, aber wir machen das nicht so aufwendig. Jetzt weiß ich, welche und wie viele Besteckteile links und rechts liegen.“ Ihre Mitschülerin Elcin Yogurtcu hat ihre berufliche Zukunft im Blick: „Wenn wir hier Abitur machen, ist es selbstverständlich, dass wir später alle Geschäftsleute sind und Bescheid wissen müssen.“ Zum ersten Mal haben die Schüler in diesem Jahr das Essen selbst ausgerichtet. „Früher sind wir immer ins Restaurant gegangen. Aber das Tischdecken ist ja auch wichtig“, betont Hallmigk. Tischtücher mit fortlaufender Falz, Blumenvasen, Wasserkaraffen, Brotkörbchen und natürlich die verschiedenen Bestecke, Gläser und Teller müssen platziert werden. Nudeln mit verschiedenen Soßen werden serviert und die Lehrerin erinnert sich, weshalb sie die Idee zu einem Kniggekurs hatte. „Vor etlichen Jahren an einer anderen Schule hat mir ein Schüler gesagt, dass er und seine Familie grundsätzlich nur im Liegen vor dem Fernseher essen.“

Ihr Schüler Emre Türköz überlegt, dass für ihn die Knigge-Lektionen später im Beruf mal nützlich sein können und dass er zuhause jetzt regelmäßig zu Übungszwecken den Tisch decken sollte. Seine Mitschülerin Blerina Duraku sitzt an der langen Tafel, bekommt gerade von einem der Jungs einen Teller bunte Nudeln serviert und freut sich: „Der Kniggetag ist cool. Wir haben uns so viel besser kennen gelernt.“