Stuttgart will den Umbau angehen Turbo für die Klimawende

In der Landeshauptstadt müssen zur Einsparung von Kohlendioxid deutlich mehr Dächer mit Fotovoltaik ausgestattet werden. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Die Landeshauptstadt hat viel Zeit verloren. Um 2035 klimaneutral zu sein, muss sie Gas geben, kommentiert Konstantin Schwarz.

Stuttgart - In 400 Jahren wäre das Potenzial an Dachflächen für die Fotovoltaik-Nutzung in Stuttgart ausgeschöpft – wenn die Stadt beim Ausbau so weitermacht wie bisher. Diese Rechnung hat 2018 eine Masterarbeit zur Energiewende aufgemacht. In den 17 Jahren zuvor hatte die Stadtverwaltung 85 Anlagen für Sonnenstrom montieren lassen. Zur Einordnung: In Stuttgart gibt es 179 000 Gebäude, davon 59 000 mit Flachdächern.

 

Die Zahlen zeigen eindrücklich, wo die Landeshauptstadt beim Klimaschutz und der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen steht. Umweltgruppen sprechen von einem Klima-Tiefschlaf, ja von Realitätsverweigerung. Stuttgart trägt beim Fotovoltaik-Ausbau die rote Laterne – auch wenn die Stadtwerke vermeldeten, 2021 genau 100 Anlagen installiert zu haben.

Nur die AfD wendet sich ab

Am Donnerstag hat der Gemeinderat beschlossen, den Hebel in Sachen Klimaschutz von Bummeltempo auf Lichtgeschwindigkeit umzulegen. Dagegen wendet sich nur die AfD, die von einem „Kostenmoloch“ spricht. Die große Mehrheit will, dass Stuttgart statt 2050 schon 2035 klimaneutral sein soll. Wie das genau geht, wird ein Gutachten samt Maßnahmenpaket mit Kostenaufstellung bis zum Sommer klären. Am Freitag folgte ein gutes Beispiel: Die Stadtwerke vermeldeten, 9000 Wohnungen der Stuttgarter Wohnungsbaugesellschaft mit Solarstrom zu versorgen. Jedes geeignete Dach werde in spätestens neun Jahren belegt sein. Das hört sich endlich nach einem Plan an.

2011 waren die Stadtwerke als „Motor der Energiewende“ gegründet worden. Man kaufte ein paar Windräder, dann tuckerte der Motor unter einem grünen Oberbürgermeister im Leerlauf. OB Fritz Kuhn schrieb kluge Papiere, aber anstatt zu investieren, bunkerte er Hunderte Millionen Euro. Dafür zahlt man heute Strafzinsen. Erst Ende 2019 startete Kuhn sein Programm „Weltklima in Not – Stuttgart handelt“ – mit dem wenig ambitionierten Ziel, bis 2050 klimaneutral zu sein.

Beim Verkehr liegt Nopper falsch

Das soll und muss sich nun mit Kuhns Nachfolger OB Frank Nopper ändern. Der Gemeinderat hat den Christdemokraten, der das Thema 2021 noch vertagte, nach hitziger Debatte in die Pflicht genommen. Nopper geht die Sache mit einem Prüfauftrag vorsichtig, aber strukturiert an – beim Thema Verkehr allerdings mit fatal falschen Prämissen. Autoverkehr wie heute, bei dem nur der Sprit von herkömmlich zu klimaneutral wechselt, ist keine Lösung, denn mit Blechlawinen baut man keine lebenswerten Städte. Ökosprit wird es überdies nicht bezahlbar in ausreichender Menge geben.

Stuttgart und die Region sind vom Pendelverkehr extrem belastet. Die Lösung kann in der Nahverkehrsabgabe liegen, in einer radikalen Vereinfachung der Tarifstruktur und im Gegenzug für den Obolus dem garantierten Ausbau des Bus- und Bahnangebots. Stuttgart könnte damit bundesweit nicht nur zum Klimavorreiter werden. Sein Denkverbot in Sachen ÖPNV sollte Nopper canceln, dazu gehört auch, dass es neben Stuttgart 21 keinen Zusatzbahnhof geben dürfte.

Investitionen in die Zukunft

Die Klimawende wird die Stadt und wohl jeden Bürger Geld kosten. Aber dabei geht es nicht um Konsum, sondern um Zukunftsinvestitionen, die auch neue Arbeitsplätze bringen. 16 Prozent der Stuttgarter Haushalte heizen noch mit Öl. Mit passenden Fördermaßnahmen und Partnern – bei Thema Fernwärme mit der EnBW – kann ein Weg ohne Kohlendioxidausstoß aufgezeigt werden, der sich übrigens langfristig rechnet. Das Unternehmen McKinsey sagt in seiner Studie zur Klimaneutralität, dass 80 Prozent der nötigen Investitionen in Ersatzbeschaffungen fließen. Eine Heizung, ein Auto oder ein Dach müssen irgendwann erneuert werden. Aber nicht erst in 400 Jahren.

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