In der Statistik sind sie Zahlen, Kriegstote aus der Ukraine. Doch sie waren Kinder mit Träumen und Plänen. So wie Rostyslaw, der sich so auf einen kleinen Bruder gefreut hatte. Eine Ausstellung in St. Eberhard erzählt von den getöteten Kindern des Krieges.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Sie dachten, die Zukunft stehe ihnen offen. Sie wollten Künstlerin, Psychologin werden. Oder einfach nur mit ihren Eltern in den Urlaub fahren. Seit dem 24. Februar 2022 ist für die Kinder in der Ukraine alles anders – und doch leben sie weiter, versuchen den Bombenangriffen zu entkommen. Manche von ihnen überleben die Angriffe jedoch nicht. Ihr Leben soll nicht in Vergessenheit geraten. Deshalb dokumentieren Ehrenamtliche der Nichtregierungsorganisation Memorial Plattform in der Ukraine die Leben der im Krieg getöteten Zivilisten. Unter ihnen sind natürlich auch viele Kinder und Jugendliche. Ihr Leben hat ein abruptes Ende gefunden. Die Ausstellung mit ihren Lebensgeschichten ist bis Ostern in der Domkirche St. Eberhard in Stuttgart zu sehen.

 

Anna aus Dnipro: Sie war der Augenstern ihrer Eltern

Anna wollte Psychologin werden. Foto: Memorial Plattform/privat

Anna lebte in Dnipro. Dort ist sie aufgewachsen, dort ist sie am 14. Januar 2023 auch gestorben. Sie wurde 15 Jahre alt. Eine russische Rakete traf das Hochhaus im Wohnviertel Peremoha. Zum Zeitpunkt des Angriffs befand sich Annas gesamte Familie in der Wohnung. Ihre Eltern, ihre Großeltern, Onkel und Tante. Dort, wo einmal das Zuhause von Annas Familie war, klafft nun einen riesiges Loch im Hochhaus. Überlebt hat nur Annas Oma.

Anna war der Augenstern ihrer Eltern. Die drei verbrachten viel Zeit miteinander, fuhren aufs Land, zum Camping. Die Eltern waren stolz auf ihre Tochter. Überliefert ist der Scherz der Tante, aus einem kahlköpfigen Baby sei einen schöne junge Frau mit Taille geworden, die zudem auch noch gerne lernte, blitzschnell Gedichte auswendig aufsagen konnte und bei Theateraufführungen gerne die Hauptrolle übernahm.

Anna, das liest man aus den Erinnerungen der Überlebenden, war eine junge Frau, die bereit war, Verantwortung zu tragen, ihren Freunden zuhörte und ihnen den ein oder anderen Ratschlag gab. Nach der Schule wollte die 15-Jährige Psychologie studieren.

Kyrylo aus Pryjmenko: Der Fünfjährige starb kurz vor seiner Einschulung

Kyrylo war das Nesthäkchen der Familie. Foto: Memorial Plattform/privat

 Kyrylo aus Pryjmenko war das jüngste von drei Geschwistern. Erst war seine Mutter traurig, als sie während ihrer Schwangerschaft erfuhr, dass er nicht das ersehnte Mädchen sein würde. Die Verwandten trösteten sie, drei Söhne seien doch ein echter Schatz. Kyrylo wurde das Nesthäkchen der Familie, war ein echter Sonnenschein, hatte Energie für zwei. Kyrylo brauchte nicht lange, um mit anderen ins Gespräch zu kommen. Seine Eltern überlegten schon, in welche Schule sie ihn schicken sollten. Im September sollte er eingeschult werden. Am 7. März 2022 war alle Planung obsolet. Die gesamte Familie starb. Kyrylo wurde fünf Jahre alt. Eine Bombe zerstörte das Haus und den Garten. Alles lag in Trümmern. Nur Chuckie, der Familienhund, konnte lebend geborgen werden. Er lebt nun bei Kyrylos Tante und ist für sie die Verbindung zu den Getöteten.

Anna aus Mariupol: Ihre Mutter konnte sie nicht aus Trümmern befreien

Vielleicht wäre aus Anna eine Künstlerin geworden. Foto: Memorial Plattform/privat

Anna lebte in Mariupol. Sie wurde neun Jahre alt. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern. Sie hatte künstlerisches Talent, malte, tanzte und besuchte eine Modelschule. Aber auch die Arbeit am Computer machte ihr riesigen Spaß. Sie malte Comics – auch in ihre Mathehefte. Wer weiß, vielleicht wäre sie eine Künstlerin geworden. Der Einschlag einer Rakete setzte ihren Zukunftsplänen ein jähes Ende. Zweimal hatten sie und ihre Mutter zuvor vergeblich versucht, aus Mariupol zu flüchten. Es gab für sie kein Entkommen aus der Stadt. Bei einem Angriff erlebten sie dann, wie eine Bombe das Haus traf, in dem sie wohnten. Fenster und Türen zerbarsten. 17 Einschläge zählte ihre Mutter an diesem Tag in dem Umgebung. Um vier Uhr nachts am 20. März 2022 flüchteten sich die beiden in den Keller. Dort erlebten sie weiteres Bombardement. Annas Beine wurde durch die herabstürzende Kellerdecke aus Beton eingeklemmt. Ihre Mutter versuchte vergeblich, sie zu frei zu bekommen. Es gelang ihr bei einem anderen Mädchen. Bei Anna nicht. Auch die herbeigerufenen Helfer konnten nichts tun. Wenig später stürzte das Haus ein. Annas Leichnam lag zwei Monate unter den Trümmern.

Denys aus Selenodolsk: Sein Zwillingsbruder kann den Verlust nicht begreifen

Denys’ Zwillingsbruder ist nun ohne Gefährten. Foto: Memorial Plattform/privat

Denys oder Denya, wie ihn seine Familie nannte, lebte in Selenodolsk, Oblast Dnipropetrowsk. Er hatte einen Zwillingsbruder. Rusla. Die beiden waren beste Freunde, alles machten sie zusammen. Vor allem Sport. Sie spielten Fußball, fuhren miteinander auf dem Fahrrad durch die Gegend. Weil ihre Mutter alleinerziehend war, halfen sie viel im Haushalt. Ihr seligster Wunsch war der nach einem Hundewelpen. Irgendwann fanden die beiden Jungs einen auf der Straße. Krank war er. Sie nahmen ihn mit und päppelten ihn auf. Als er wieder gesund war, blieb der junge Hund bei ihnen. Stolz gingen die beiden mit ihrem neuen Familienmitglied spazieren. Am 3. September 2022 war Denys mit Ruslan, seiner Mutter und seiner Großmutter und natürlich mit dem Hund unterwegs in einem Park. Eine russische Granate traf ihn. Noch am selben Tag starb er an seinen schweren Verletzungen. Er wurde neun Jahre alt. Sein Bruder Ruslan kann noch immer nicht verstehen, dass sein Bruder, sein engster Vertrauter, nicht mehr zurückkommen wird. Zu Weihnachten hat die Familie Denys einen kleinen Weihnachtsbaum und seine Lieblingssüßigkeiten auf das Grab gestellt.

Rostyslaw aus Kiew: Der 13-Jährige wollte großer Bruder sein, die Geburt erlebte er nicht

Rostyslaw begleitete seine Mutter zum Ultraschall. Foto: Memorial Plattform/privat

Rostyslaw war 13 Jahre alt, als die russische Armee in die Ukraine einmarschierte. Er war ein sehr guter Schüler mit Bestnoten, ging in die siebte Klasse mit erweitertem Deutschunterricht. In Taekwondo hatte er den roten Gürtel, er war ein Schwimmer und Fußballspieler. Seinem Großvater half er beim Reparieren von Autos. Denn Autos waren seine Leidenschaft. Vor allem aber freute sich Rostyslaw, dass er bald einen Bruder haben würde. Er begleitete seine Mutter zu den Ultraschalluntersuchungen, weil er der erste sein wollte, der erfuhr, wie es dem Kleinen geht.

Rostyslaw lebte in der Hauptstadt Kiew. Weil seine Eltern die Hochhauswohnung nicht für sicher hielten, zogen sie in ihr Landhaus. Doch auch dort fanden sie keinen Schutz. Rostyslaws Familie musste weiter fliehen. Von einem russischen Panzer aus wurde ihr Auto beschossen. Sie versteckten sich im Wald. Bei einer weiteren Explosion starb Rostyslaw am 26. Februar 2022, am dritten Tag des Krieges. Seine Eltern, seine Großeltern und sein Pate überlebten. Rostyslaws kleiner Bruder wurde vier Monate nach seinem Tod geboren. Er heißt Jaroslaw. Den Namen hatte Rostyslaw für ihn ausgesucht.

Nicole und Denys aus Yurivka: Alle im Haus starben – nur Opa überlebte

Nicole und Denys starben mit der gesamten Familie. Nur ihr Großvater überlebte. Foto: Memorial Plattform/privat

Nicole und Denys waren Zwillinge. Sie waren 13 Monate alt, als zwei Bomben auf ihr Haus in dem Dörfchen Yurivka fielen. Hier auf dem Land lebte ihre Mutter bei ihren Eltern und ihrem Bruder. Sie versorgte die Kinder, studierte aber auch noch, weil sie davon träumte, in Kiew als Landschaftsarchitektin zu arbeiten. Um das Haus ihrer Eltern hatte sie einen Blumengarten angelegt. Nicole konnte mit ihren 13 Monaten schon laufen und Mama, Oma und Opa sagen. Denys war noch nicht so weit. Er hatte es nicht so eilig. Ihre Großmutter sang mit den beiden, manchmal passte ihr Onkel im Teenageralter auf sie auf. Der Großvater verwöhnte seine beiden Enkel mit Spielsachen. Der schwarze Kater Masik und der alte Schäferhund Aidar gehörten ebenfalls zur Familie. Am 6. März 2022, als der Angriff erfolgte, war die ganze Familie bis auf den Großvater zu Hause. Er war bei der Arbeit. Alle im Haus starben. Überlebt haben nur der Großvater und die Tiere.

Marharyta aus Charkiw: Ein Bombensplitter durchschlug ihr Herz

Marharyta wollte Tierärztin werden. Foto: Memorial Plattform/privat

Marharyta lebte in der Region Charkiw. Sie bastelte Bilder aus Perlen, tanzte, verbrachte viel Zeit mit ihren Freundinnen. Wie das Mädchen eben so tun. Sie lebte mit vielen Tieren: Papageien, Chinchillas und Meerschweinchen. Die Achtjährige wollte Tierärztin werden. Aber das wie auch den für den Sommer geplanten gemeinsamen Familienurlaub sollte sie nicht mehr erleben. Am Abend des 21. Juni 2022 saß sie auf der Türschwelle, während ihre Mutter das Geschirr spülte. Marharyta las ihrer Mutter aus einem Buch vor. Es war ganz still, bis eine Bombe ihre Splitter auf dem Hof verstreute. Einer durchschlug das Herz des Mädchens. Es war sofort tot. Das Haus der Familie wurde komplett zerstört. Sie ist in ein anderes Dorf gezogen. Marharytas Vater, so berichtet seine Ehefrau, ist nach dem Tod seiner Tochter innerhalb weniger Tage ergraut.

Ausstellung

Schau
Die Ausstellung „Verlorene Kindheit“ zeigt Fotografien und erzählt die Leben ukrainischer Kinder und Jugendliche, die im russischen Angriffskrieg gestorben sind. Zu sehen ist die Ausstellung in der Domkirche St. Eberhard in Stuttgart. Die Ausstellung ist bis Ostern zu sehen.

Macher
Die ukrainische Nichtregierungsorganisation Memorial Plattform besteht aus Ehrenamtlichen. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 sammeln sie Fotos von getöteten Zivilisten und versuchen, deren Leben zu erzählen.