Sie waren übel beleumundet: Doch ohne Lumpensammler hätte man lange Zeit kein Papier herstellen können. Eine Ausstellung im Hauptstaatsarchiv zeigt ihre spannende Geschichte.

Stuttgart - Verschimmelte Fetzen, vor Dreck starrende Lappen, blutige Verbände – was sich einst auf dem Karren eines Lumpensammlers auftürmte, verbreitete nicht nur einen infernalischen Gestank, sondern war auch Hort eines bunten Straußes übelster Krankheitserreger: Blattern, Krätze, Typhus und nicht zuletzt der Milzbrand – die Berufskrankheit der Lumpensammler – fuhren auf den Handwagen dieses nicht eben wohl beleumundeten Berufsstands mit. Lumpensammeln war im ausgehenden Mittelalter eine Lizenz zum Sterben.

 

Ohne alte Lumpen kein Papier

Doch zu welchem Zweck zog ab etwa dem frühen 15. Jahrhundert plötzlich ein Heer von bettelarmen Männern und Frauen in ganz Europa durch die Lande, um in Dörfern und Städten alte Lappen und Stoffreste einzusammeln? Die Antwort ist so einfach wie aktuell: Jede technische Revolution bringt Berufsstände hervor, ohne die der Fortschritt zwar nicht möglich wäre, die aber gleichwohl weder gesellschaftlich sonderlich geschätzt noch ihrer Bedeutung für den Wirtschaftskreislauf entsprechend entlohnt werden: Was der Paketbote für den modernen Internethandel ist, war der Lumpensammler der frühen Neuzeit für die Papierherstellung.

Die Papierherstellung war eine Revolution

Dass zudem auch mediale Revolutionen kein Privileg des 21. Jahrhunderts sind, darauf macht derzeit die sehenswerte Ausstellung im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart aufmerksam. Denn das Wissen um die massenhafte Herstellung von Papier löste vor rund 600 Jahren eine geradezu explosive Beschleunigung des Informationsflusses aus. Auch das nicht ganz unähnlich der Entwicklung heutiger Tage. „Die erste Papiermühle im heutigen Baden-Württemberg nahm um 1393 in Ravensburg ihre Arbeit auf“, sagt Erwin Frauenknecht, Historiker am Hauptstaatsarchiv. Ravensburg, Handelszentrum und Freie Reichsstadt, entwickelte sich rasch auch zum Papierzentrum, das Papier nach ganz Europa lieferte.

Über China und Arabien fand die Erfindung ihren weg nach Europa

Über 1000 Jahre waren zuvor vergangen, bis die Grundtechnik der Papierherstellung über China, Arabien und Spanien ihren Weg nach Mitteleuropa fand. Der Rohstoff, aus dem Papier hergestellt wurde, waren meist Hadern, also Stofflumpen. „Und die waren knapp“, sagt die Direktorin des Hauptstaatsarchivs, Nicole Bickhoff. In den Haushalten jener Zeit fielen pro Person und Jahr im Schnitt nur ein bis zwei Kilogramm entbehrlichen Stoffs an. „Um wirtschaftlich zu arbeiten, benötigte eine Papiermühle Lumpen von rund 12 000 bis 24 000 Menschen im Jahr“, erklärt Frauenknecht.

Wurde die unappetitliche Masse an Stofffetzen vor Einführung der Mühlen noch ausschließlich per Hand zerrissen und dann zum Faulen mit Wasser versetzt, so übernahmen ab Ende des 14. Jahrhunderts Papiermühlen die Zerkleinerungsarbeit. „Das Hauptstaatsarchiv verfügt über technische Zeichnungen alter Papierstampfwerke. Eine davon stammt von dem württembergischen Ingenieur Heinrich Schickhardt“, sagt Frauenknecht. Die erste württembergische Papiermühle wurde in Urach 1477 errichtet.

Erst um 1850 gelang es Holz zur Papierherstellung zu nutzen

In den Mühlen übernahmen gut ausgebildete und entsprechend bezahlte Schöpfer, Gautscher und Leger die eigentliche Papierherstellung: Mit einem feinmaschigen Drahtsieb, aufgespannt in einem entsprechend der Papiergröße gefertigten Holzrahmen, wurde der Stoffbrei vom Schöpfer aus der Bütte geschöpft, vom Gautscher blattweise auf Filz gelegt und vom Leger der Papierstapel schließlich gepresst. „So konnten 3000 bis 4000 Blätter am Tag entstehen“, sagt Erwin Frauenknecht, der die umfangreiche Wasserzeichen-Sammlung des Hauptstaatsarchivs betreut. „Es ist die weltweit größte Sammlung dieser Art“, sagt Nicole Bickhoff. Die Wasserzeichen, die sich von Papiermühle zu Papiermühle unterschieden, ermöglichen heute sowohl die Datierung von Schriftstücken als auch die Herkunftsermittlung des Papiers.

Erst als es ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts gelang, Holz so weit aufzuspalten, dass es zur Papierherstellung verwendet werden konnte, endete auch allmählich die Blütezeit des Lumpensammlers. Dessen anrüchiger Ruf lebt bis in die Gegenwart fort, wenn auch nur in Schimpfwörtern wie „Haderlump“ und „Lumpensack“.