Seit fast einem Jahr ist der ehemalige Stuttgarter Tänzer Filip Barankiewicz Ballettdirektor in Prag. Mit viel Erfolg, wie die jüngste Premiere mit einer Uraufführung der Stuttgarter Choreografin Katarzyna Kozielska beweist.

Prag - Das gab es seit zwanzig Jahren nicht mehr beim Ballett des Prager Nationaltheaters : drei Uraufführungen an einem Abend! Alles waren Kreationen der jüngeren Generation, unterschiedliche, in ästhetischer Korrespondenz überzeugende Auseinandersetzungen mit der aktuellen Frage nach dem, was gemeint sein kann mit dem „Slawischen Temperament“, wie der Titel des Ambivalenzen nicht ausklammernden Programms lautet.

 

Mit diesem Abend beschließt der Prager Ballettdirektor Filip Barankiewicz seine erste Saison – und da sind am Ende aller guten Dinge drei. Denn schon mit den beiden bisherigen Premieren, die Erstaufführungen und bereits eine Uraufführung auf die Bühne brachten, sorgte er für frischen Wind in der Prager Ballettszene. Mit den aktuellen Uraufführungen auf der neben dem Nationaltheater gelegenen Bühne der Neuen Szene weht der Wind nun nicht nur frisch, sondern auch ungewohnt kräftig. Ob es Gegenwind geben wird aus konservativen Kreisen, bleibt abzuwarten.

Das Premierenpublikum war jedenfalls begeistert. Das war es auch schon zu Beginn dieser Saison, als der ehemalige Stuttgarter Solist und Publikumsliebling Barankiewicz mit dem dreiteiligen Abend „Timeless“ seinen offiziellen Einstand als Ballettdirektor in Prag gab. Zeitlos im Sinne harmloser Unverbindlichkeit war hier gar nichts. Wenn dieser Begriff etwas verdeutlicht, dann, dass der neue Ballettdirektor bei seinem Start so unmissverständlich wie vorausschauend vermitteln konnte, wie sehr ihm daran gelegen ist, Tradition und Moderne in einen Dialog zu führen. Er will Horizonte weiten, was Mut zum Risiko bedeutet, ohne die Traditionen außer Acht zu lassen. Da bringt er aus seiner Stuttgarter Zeit beste Erfahrungen mit nach Prag.

Barankiewicz fördert Talente in den eigenen Reihen

Mit Balanchines „Serenade“ als Einstand, diesem schwebenden, magisch-geometrischen Tanz im Mondschein, konnten vor allem die Prager Tänzerinnen schon mal zeigen, was sie technisch drauf haben. Programmatisch klug folgte darauf mit „Separate Knots“ eine Uraufführung: Emanuel Gat, der in der Tanzwelt längst einen Namen hat, konnte erstmals für eine Prager Kreation gewonnen werden. Dass seine Arbeit nicht ganz zu überzeugen wusste, war beim furiosen Finale mit Glen Tetleys „Le Sacre du printemps“ vergessen. Kein Halten für das Publikum, dieses Stück reißt die Leute nach wie vor von den Sitzen. Der Jubel gilt den Tänzern, die mit atemberaubenden Sprungvarianten die Bühne beherrschen.

Der Solist, hier ein männliches „Frühlingsopfer“, ist Ondřej Vinklát. Und der Tänzer ist ein Beispiel, wie Filip Barankiewicz die Förderung von Talenten versteht. Denn in der nächsten Premiere dieser Saison sieht man ihn schon in völlig anderer Art, witzig, verschmitzt, jungenhaft und charmant als Colas in Ashtons „La fille mal gardée“. Barankiewicz, der die Rolle selbst oft getanzt hat, konnte seine Erfahrungen mit dem Ziel weitergeben, eine eigenständige, dem Tänzer angemessene Interpretation auf den Weg zu bringen. So wurde der Abend zu einem Ballettspaß der Spitzenklasse für die ganze Familie. Das Publikum jubelt nicht nur in der Premiere; auch in Repertoirevorstellungen gibt es stehende Ovationen, das will beim eher zurückhaltenden Prager Publikum schon was bedeuten.

Es geht um die Vielfalt und ihre Kontraste

Uraufführungen sind immer ein Wagnis, aber unverzichtbar. Das weiß Filip Barankiewicz aus Stuttgart; und er weiß auch, wie wichtig es ist, Neues in den Kontext des Repertoires zu setzten und dafür mit bekannten Namen beim Publikum die Neugier zu wecken. So beginnt der neue Ballettabend „Slovanský temperament“, Slawisches Temperament, mit einer Arbeit von Ondřej Vinklát, von dessen Talent Filip Barankiewicz überzeugt ist, wie er im Gespräch bestätigt. Inhaltlich geht es darum, die Vielfalt und alle Kontraste, die sie beinhaltet, als Chance, nicht als Bedrohung zu sehen. Vinklát gibt mit „Dumka“ sein Debüt als Choreograf und als Komponist, der die gleichnamigen Volkslieder von Antonín Dvořák bearbeitet hat. Provokanter setzt sich am Ende der russische Tänzer und Choreograf Andrey Kaydanovski in „Perfect example“ der Frage nach Normen und deren Durchsetzung aus.

Als Mittelpunkt des Abends, dramaturgisch klug gesetzt, steht „Aspects“ von Katarzyna Kozielska. Die Tänzerin wird ihre aktive Karriere beim Stuttgarter Ballett beenden, um sich künftig ganz der choreografischen Arbeit zu widmen. Ihr Prager Beitrag bezieht sich in einer abstrakten Abfolge von Bildern und Situationen zum einen auf Aspekte des Tanzes, zum anderen vor allem auf Aspekte existenzieller Natur von Menschen, die sich Zuordnungen entziehen können, um somit Momente des Glücks in der Freiheit des Risikos zu erleben. Tänzerisch verbindet die Polin unter anderem zur Musik ihres Landsmannes Henryk Górecky neoklassische Ballettästhetik mit zeitgenössischem Material in ihrem Dialog der Aspekte.

Mit diesem in wachem Zeitbezug konzipierten Abend geht die erste Saison von Filip Barankiewicz beim Ballett des Prager Nationaltheaters zu Ende – erfolgreich in der Rückschau, vielversprechend in der Vorschau. So wird ein vierteiliger Abend dem tschechischen Meisterchoreografen Jiří Kylián gewidmet sein. Erstmals überhaupt wird es außerhalb von Stuttgart John Crankos „Schwanensee“ in neuer Ausstattung geben. Für die Uraufführung eines Balletts nach Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ konnte Barankiewicz den italienischen Choreografen Mauro Bigonzetti gewinnen.