Wie von Zauberhand schwebt der Foliant des Meisters in die Höhe, die feuerrot glühenden Volants der Robe kündigen das Kommen des Herrn Gevatters an. Aber die wahrhaft magischen Momente entstehen im Ballett „Krabat“ mit den Mitteln der Bühnenkünste: aus dem Tanz, dem Spiel und der Musik.

Stuttgart - Wie von Zauberhand bewegt plumpsen einzelne Ballen von der fast portalhoch gestapelten Mauer aus Säcken auf den Bühnenboden des Opernhauses, schwebt der Foliant des Meisters in die Höhe. Die feuerrot glühenden Volants der Robe kündigen im Dunkel das Kommen des todbringenden Herrn Gevatters an. Vom Meister selbst bleiben am Ende nur ein zerschmetterter Kopf und sein Mantel übrig. Kein Zweifel, der Waisenjunge Krabat, der Held der gleichnamigen Geschichte von Otfried Preußler, ist in eine Welt der dunklen Mächte geraten, als er, angelockt von geheimnisvollen Raben und den Versprechungen des Müllermeisters, seine Lehre in einer Mühle antritt.

 

So perfekt, wie die Tricks der Bühnentechnik optische Illusionen erzeugen, rätseln selbst die Erwachsenen im Publikum staunend, wie es denn wohl gemacht worden ist. Aber die wahrhaft magischen Momente entstehen in dem Ballett „Krabat“ mit den ureigenen Mitteln der Bühnenkünste: aus dem Tanz, dem Spiel und der Musik. Der Choreograf Demis Volpi entwirft in seinem ersten abendfüllenden Handlungsballett mit souveräner Hand großes Kino auf der Theaterbühne, tut dies jedoch durch eine relativ abstrakte moderne Erzählweise, ganz ohne naturalistische Eins-zu-eins-Bebilderung.

Die offizielle Anerkennung für eine mitreißende Uraufführung, die Unterhaltsamkeit und Tiefe bietet, folgte am Premierenabend nach dem Schlussapplaus auf der Bühne: der Intendant Reid Anderson hat Demis Volpi zum zweiten Hauschoreografen des Stuttgarter Balletts neben Marco Goecke ernannt. Damit ist die Lücke, die Christian Spucks Weggang im vergangenen Jahr gelassen hat, gefüllt. Und das mit einem Jungchoreografen, den man zwar unlängst noch zu den Talenten zählte, der jedoch sein Potenzial bereits in seinen bisherigen Tanzkreationen gezeigt hat.

Das innere Geschehen wird im Tanz anschaulich

Die Tanzsprache von Demis Volpi ist in seinen abstrakten Stücken erfindungsreicher. Aber es gelingt ihm – und darauf kommt es hier ja an –, das äußere und das innere Geschehen im Tanz anschaulich zu machen und die Figuren plastisch zu zeichnen. Eher zeitgenössisch ist der Stil, um die dunkle Seite von „Krabat“ zu verdeutlichen: Wenn David Moore die abgewinkelten Arme hektisch auf und ab flattern lässt, erinnert dies an Vögel mit gestutzten Flügeln, die nicht davonfliegen können, so wie auch der Titelheld und seine Leidensgenossen, die Gesellen, dem Bann des Meisters nicht entkommen können. Mit David Moores Krabat geht der Zuschauer durch dick und dünn, mit solcher Hingabe macht der Tänzer sich diese erste für ihn geschaffene große Rolle zu eigen. Dies hat ihm nun die Beförderung zum Solisten eingebracht.

Die Gegenwelt der Freiheit und der Liebe wird dagegen meist symbolisiert vom Schwebeleichten und der klaren Linie des Balletts. Angeführt von der Kantorka – Elisa Badenes strahlt wunderbar die Zartheit und zugleich die unbeirrbare Stärke dieser Frauenfigur aus –, trippeln die Mädchen auf Spitze herein. Arabesquen und Paarpirouetten charakterisieren das Duett des Gesellen Tonda (Alexander Jones) und seiner Geliebten Worschula (Alicia Amatriain). Als die Worschula jedoch unter den Einfluss des Magiers gerät, verliert der klassische Tanz die schönen Formen: Ein breitbeiniges, staksiges Balancieren auf Spitze steht für Wahnsinn und Tod.

Der für seine Rolle mit Augenklappe und Glatze ausstaffierte Marijn Rademaker hat leider wenig Gelegenheit, seine filigrane Tanztechnik zu zeigen, zeichnet dafür jedoch durch eine beklemmende Präsenz in Bewegung und Gestik einen dämonisch-verführerischen Meister. Sue Jin Kang als Herr Gevatter beherrscht mit düsterer Grandezza die Szene. Der Zauberer Pumphutt (Angelina Zuccarini), zuerst ein keckes Punkmädel auf Spitzenschuhen, dann als Cowboy, Ninjakämpfer und Pirat verkleidet, bietet im Wettstreit mit dem Meister diesem mit hohen Beinkicks Paroli. Dafür und vermutlich auch für die augenzwinkernd verwendeten Filmzitate aus „Matrix“ und „Fluch der Karibik“ gab es Szenenapplaus.

Volpi versteht es, Atmosphären zu schaffen

Katharina Schlipfs Ausstattung ist im Grunde puristisch, obwohl sie viel fürs Auge bietet. Durch einen über den Aufbau aus Säcken geworfenen Vorhang verwandelt sich beispielsweise die Mühlen- in eine Waldszenerie. Ein Blickfang sind die schwarzen Rabenkostüme aus größtenteils echten Federn und das rot glitzernde Abendkleid des Herrn Gevatter. Bühnenbild und Kostüme tragen denn auch das Stück kongenial mit.

Demis Volpi versteht es, Atmosphären zu schaffen. Dabei unterstützt ihn die klug ausgewählte Musik, die mal lautmalerisch (Pêteris Vasks), mal pulsierend-repetitiv (Philip Glass), dann wieder dunkel-bedrohlich (Krzysztof Penderecki) klingt und vom Staatsorchester unter Leitung von James Tuggle mit Verve gespielt wird. Die Kantorka begleiten lichter Soprangesang und die zarten Stimmen eines Kinderchors, schroffe Mühlengeräusche wiederum den monotonen Arbeitsalltag, dem Krabat und seine Leidensgenossen, die Müllergesellen, ausgesetzt sind.

Hinaus in die Freiheit

Die Vorlage des Balletts, Otfried Preußlers berühmtes Jugendbuch, hat Vivien Arnold (Libretto und Dramaturgie) aufs Wesentliche konzentriert. Dadurch und durch den hohen Abstraktionsgrad des Balletts wird der Kern des Romans herauskristallisiert, was der im Grunde kargen Sprache Preußlers entspricht, die, wie der Tanz im Theater, die Ausmalung des inneren Geschehens und die Aussage im Kopf des Lesers entstehen lässt.

So erzählt Volpis „Krabat“ eine archetypische Geschichte vom Erwachsenwerden, den Mut zum eigenverantwortlichen Handeln, die Befreiung von Fremdbestimmung und den Verführungen durch Macht sowie die erlösende Kraft der Liebe, die den Bann des Meisters bricht. Wenn die Kantorka Krabat schließlich hilft, sein Rabenkostüm abzustreifen, erinnert das nicht zufällig an einen Geburtsvorgang. Im Schlussbild geht das Paar auf die lichtdurchflutete Öffnung in der Mauer zu, durch die die Gesellen schon geflohen sind: hinaus in die Freiheit, ins Ungewisse.