Im Streben nach tänzerischer Perfektion kann „Schwanensee“ zum Spiegelbild unserer Leistungsgesellschaft werden. Der Klassiker, den das Stuttgarter Ballett nun wieder aufnimmt, hält auch ungewöhnlichen Interpretationen wie der von Dada Masilo stand.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - „Schwanensee“ - kennt das inzwischen nicht jeder? Muss das berühmteste aller Ballette wirklich so oft die Bühnen blockieren? Nein, meint der Tänzer Mikhail Baryshnikov. „Das Leben ist zu kurz, um sich immer mit den gleichen Dingen zu beschäftigen. Ich will vorwärtskommen und begreifen, was wirklich passiert.“ Nein, ruft in London derzeit ein Teil der Tanzszene und macht dieses Ballett zum Synonym für überkommene Rollenbilder und den generell ausbeuterischen Umgang einer Kunstform mit seinem Personal.

 

Braucht eine Zeit, die an Ungleichheiten krankt, nicht andere Stücke? Ist unser durchgetaktetes Leben zu kurz für „Schwanensee“? Nein, wird jetzt der Chor der Ballettfans lautstark protestieren. „Schwanensee“, das ist für viele der Inbegriff des klassischen Tanzes. Auch wer noch nie eine Aufführung persönlich erleben durfte, hat zumindest eine Ahnung vom Zauber dieses Stücks, in dem sich Tutus und Spitzentanz im besten Fall zu einem Traum in Weiß fügen. Wenn sich Ballerinen in Formationen, die wie mit Lineal und Zirkel in den Raum skizziert wirken, und mit synchron wogenden Armen in ätherische, vogelähnliche Wesen verwandeln, dann fällt selbst einer nach vorn drängenden Zeitgenossin es schwer, sich dieser Magie zu entziehen.

Seit 1895 ein Erfolgsgarant

Wer glaubt, dass ein Märchen um bedingungslose Liebe und grenzenlose Enttäuschung heute überholt ist, der sollte sich in Stuttgart John Crankos Version des Klassikers anschauen. Natürlich ist in erster Linie das zu bestaunen, was den Mythos dieses Balletts ausmacht. Crankos „Schwanensee“ zeigt aber auch, welche psychologische und emotionale Aktualität seine Personen und seine Geschichte nach wie vor haben können. Vom 6. Dezember an hat das Stuttgarter Ballett die Inszenierung wieder auf dem Spielplan. Es versteht sich fast von selbst, dass die erste Staffel mit neun Vorstellungen ziemlich schnell ausverkauft war.

Auch für andere Kompanien ist „Schwanensee“ ein Erfolgsgarant, auf den viele osteuropäischen Tournee-Produktionen gerade in der Weihnachtszeit setzen. Doch wer Crankos Interpretation kennt, wird enttäuscht sein vom aus Russland importierten Original, das in der Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow erstmals 1895 am Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg die Musik Tschaikowskys mit Erfolg in Tanz übersetzte. Zu kühl, zu holzschnittartig in der Charakterzeichnung verhandelt es das Märchen um den bösen Zauberer Rotbart, der neben vielen anderen Mädchen auch die schöne Odette in einen Schwan verwandelt hat.

Zwei Charaktere mit Widersprüchen

Bei Vollmond dürfen die verwunschenen Schwäne zur Geisterstunde menschliche Gestalt annehmen. Derjenige, der ihnen ewige Liebe schwören wird, kann sie von diesem Fluch retten. Siegfried heißt der Schwanen-Supermann, und John Cranko machte ihn zu seinem Verbündeten. Den wichtigen Rest des Balletts, die weißen Akte, den Ballsaalglamour, bewahrt der Choreograf. Die Rolle des Thronanwärters aber, der am Tag nach seinem 21. Geburtstags eine Frau wählen soll, kleidet er emotional so aus, dass jeder mitleiden kann: Als die Mutter ihm per gemalter Brautschau mögliche Zukünftige anpreist, ermuntert man ihn insgeheim zum Davonlaufen. Als er am See auf die Schwäne trifft, hofft man, dass er den Fluch brechen kann. Als er beim Ball auf die Verführungskünste des von Rotbart manipulierten Odette-Doubles hereinfällt, schaut man mit ihm in einen Abgrund und weiß, dass er alles verlieren wird.

Dass die beiden Hauptfiguren Charaktere mit dunklen Seiten, mit Widersprüchen sind, hält „Schwanensee“ aktuell. Da schwört einer ewige Liebe und lässt sich schon am nächsten Abend von einer anderen den Kopf verdrehen. Da ist eine die Unschuld in Person, doch Männerblicke projizieren ihre Lust auf sie. Für John Cranko war dieses psychologische Drama so zeitlos, dass er „Schwanensee“ bereits 1963 mit seiner noch jungen Kompanie in Stuttgart umsetzen wollte; die Beine der Ballerinen züchtig umhüllt von langen Röcken, die zugleich Defizite in Sachen klassischer Linie verbargen.

Polina Semionova ist beeindruckt von John Crankos Version

Polina Semionova, die 2011 in Stuttgart Crankos Interpretation erstmals als Gast tanzte, weiß als Russin, was den Reiz von „Schwanensee“ ausmacht: „Es ist unglaublich zu sehen, dass ein Mensch tatsächlich aussehen kann wie ein Schwan.“ Neu war für den Star in Stuttgart die Variation im dritten Akt, die Cranko änderte, und vor allem der vierte Akt, in den er Tschaikowskys Streicher-Elegie aus „Hamlet“ einfügte. „Die Musik, die John Cranko hier benutzt hat, gibt es in keiner anderen Version. In diesem letzten Pas de deux mit dem Prinzen zeigt sich eine neue Seite von Odette. Man versteht mehr als zuvor, dass sie ein Mensch ist. Sie hat noch den Körper eines Schwans, aber die Gefühle eines Menschen. Das beeindruckt mich sehr, und ich finde diese Interpretation optimal, weil sie Odette zu einer Persönlichkeit macht, die Würde hat und vergeben kann.“

Wie spannend der Mythos „Schwanensee“ über diesen Konflikt der Gefühle hinaus bis heute bleibt, zeigen aktuelle Blicke auf den Klassiker. Einer schwarzen Tänzerin aus Südafrika gebührt in der Stuttgarter Region in diesem Jahr die Ehre, die „Schwanenesee“-Saison zu eröffnen. Und Dada Masilo tut das gewohnt ungewöhnlich. Seit dem ersten „Colours“-Festival, wo sie mit ihrer Dance Factory und „Carmen“ gastierte, ist sie auch hier bekannt dafür, Klassiker gegen den Strich zu bürsten. Am 30. November zeigt sie im Forum in Ludwigsburg ihre Version von „Schwanensee“, die jenseits plumper Travestie Männer in Tutus steckt, um von Homosexualität und Aids, Toleranz und Unterdrückung zu erzählen. Dass afrikanisch-kraftvoll geschwungene Hüften die Tüllröcke in kessen Kreisen versetzen, sorgt seit 2010 ebenso für Aufsehen wie das Verschmelzen unterschiedlicher (Tanz-)Kulturen und Ästhetiken. „In meiner Choreografie singen die Tänzerinnen und Tänzer auch und sprechen eine ganze Menge“, erklärt die Choreografin. „Ich wollte, dass alles echt ist, kein Fantasiebild wie im Klassischen Ballett. Wir singen in der Brautpreis- und der Hochzeits-Szene, genauso wie das bei traditionellen afrikanischen Festen der Fall ist. Südafrikaner vokalisieren alles. Meist halten uns andere Menschen für laut und sehr energiegeladen. Mit diesen Wahrnehmungen und Vorurteilen spiele ich.“

Von Ballerinen verlangt dieses Stück fast Unmögliches

In seiner klassischen Version verlang „Schwanensee“ von Ballerinen fast Unmögliches. Sie müssen den beiden Facetten des berühmten Schwans gerecht werden, der fragilen Unschuld der weißen Odette ebenso wie der powernden Verführung der schwarzen Odile. Und sie müssen eine perfekte Performance abliefern. Fehler erscheinen in der weißen Schwanenwelt wie unterm Vergrößerungsglas, im glitzernden Ballsaal später zählen alle die Anzahl der Schlenkerpirouetten mit, 32 dieser Fouettées werden von ihr erwartet. Und so kann „Schwanensee“ wie in Darren Aronofskys Kino-Psychothriller „Black Swan“ für eine Tänzerin leicht vom Traum zum Albtraum werden - und zum Spiegelbild einer pervertierten Leistungsgesellschaft, die im Streben nach Perfektion das Scheitern als Möglichkeit verbietet und auf maximale Ausbeutung auch menschlicher Resourcen setzt.

Noch einen Schritt weiter geht der Schwede Frederik Rydman bei seiner Annäherung an den Klassiker. „Swanlake Reloaded“ heißt seine Streetdance-Version, die aus den verwunschenen Schwänen eine Riege von Opfern macht. Die verzauberten Schwäne werden zu verlorenen Töchtern; sie treten als Junkies auf, gefangen in ihrer Sucht, abhängig von Zuhältern, Dealern und Freiern. „Es ist doch völlig abwegig, dass die Schwäne als verwunschene Wesen bewundert werden“, sagt Rydman. „Sie sind Opfer. Der See im Wald besteht aus den Tränen der Eltern.“ Verlorene Töchter, nicht mehr erreichbar für die Außenwelt. In der modernen Welt sind das Junkies, gefangen in ihrer Sucht, abhängig von Zuhältern, Dealern und Freiern.

Im Stuttgarter Opernhaus werden diesen See, den Crankos Ausstatter Jürgen Rose vor romantischer Ruinenkulisse platzierte, vom 6. Dezember an auch die Tränen der Stuttgarter Ballett-Junkies füllen. Zum Sterben schön ist „Schwanensee“ hier bis zum bitteren, dramatischen Ende, wenn der Prinz in den aufgewühlten Fluten ertrinkt. Der Mythos „Schwanensee“ wird auch dieses Mal überleben.

Der Weg zu „Schwanensee“

Geschichte: Kaum zu glauben, aber der Start von „Schwanensee“ war holprig. 1877 erlebte das Ballett zur Musik Tschaikowskys in der Version von Wenzel Julius Reisinger eine wenig überzeugende Uraufführung am Bolschoi-Theater. Maßgeblich bis heute ist die Interpretation von Marius Petipa und Lew Iwanov für das Mariinsky-Theater in St. Peterburg. John Cranko fügte seiner Version, die am 14. November 1963 in Stuttgart herauskam, im vierten Akt eine Streicher-Elegie aus Tschaikowskys „Hamlet“ hinzu.

Aufführungen: Dada Masilo gastiert am 30. November mit einem südafrikanischen Blick auf „Schwanensee“ im Forum in Ludwigsburg. Das Stuttgarter Ballett zeigt John Crankos Version vom 6. Dezember bis zum 6. Januar in neun ausverkauften Vorstellungen; im Mai 2018 folgen sieben weitere. Die Wiederaufnahme tanzen Friedemann Vogel und Alicia Amatriain; Debüts geben am 9. Dezember Martí Fernández Paixá und Ami Morita.