Für die nach Ansicht der Verfasserin missglückte Dramaturgie des Abends wurde direkt der Intendant Anderson verantwortlich gemacht: "Das war so, als wollte die Welt an Thomas Mann erinnern und täte dies mit Marathonlesungen der Drehbuchschreiber von ,Gute Zeiten, schlechte Zeiten'." Die Stuttgarter Solisten kamen besser weg. Alexander Zaitsevs Auftritt sei "großartig", Friedemann Vogel "wirklich gut" gewesen. Bei Sue Jin Kang, der "Ballerina ohne Fehl und Tadel und Haltbarkeitsdatum", hieß es allerdings: "Leider ist ihr Spiel so beredt wie ein schönes Plakat."

 

Die "Süddeutsche Zeitung" schwärmte ebenfalls vom "außerordentlichen" Tänzer Friedemann Vogel und von Bridget Breiner in Tetleys "Ricercare" als einer "tänzerisch wie stilistisch untadeligen" Protagonistin. Die SZ sah aber "überanstrengte Stuttgarter" in der Festwochen-Aufführung von Crankos "Initialen R.B.M.E.", die mit dem Stück "erdenschwer haderten".

Damit ist ein Problem angesprochen, das künftig drängend wird: der Umgang mit dem choreografischen Erbe von John Cranko. Erschreckend hatte sich nämlich bei der Premiere des dreiteiligen Ballettabends "Cranko/van Manen/Béjart" am 14. Januar ein Niveaugefälle aufgetan.

Es fehlt der Charme Crankos

In van Manens "Frank Bridge Variations", die auf "Initialen R.B.M.E." folgten, meinte man eine andere Kompanie zu erleben, athletisch, präzise, vor allem ausdrucksvoll, nachdem zuvor das delikate Cranko-Werk schlampig, lasch und tatsächlich tänzerisch weitgehend zweitklassig über die Bühne gegangen war. Vor allem fehlte der von allen, die ihn kannten, gerühmte Charme Crankos.

Die "Süddeutsche Zeitung" schwärmte ebenfalls vom "außerordentlichen" Tänzer Friedemann Vogel und von Bridget Breiner in Tetleys "Ricercare" als einer "tänzerisch wie stilistisch untadeligen" Protagonistin. Die SZ sah aber "überanstrengte Stuttgarter" in der Festwochen-Aufführung von Crankos "Initialen R.B.M.E.", die mit dem Stück "erdenschwer haderten".

Damit ist ein Problem angesprochen, das künftig drängend wird: der Umgang mit dem choreografischen Erbe von John Cranko. Erschreckend hatte sich nämlich bei der Premiere des dreiteiligen Ballettabends "Cranko/van Manen/Béjart" am 14. Januar ein Niveaugefälle aufgetan.

Es fehlt der Charme Crankos

In van Manens "Frank Bridge Variations", die auf "Initialen R.B.M.E." folgten, meinte man eine andere Kompanie zu erleben, athletisch, präzise, vor allem ausdrucksvoll, nachdem zuvor das delikate Cranko-Werk schlampig, lasch und tatsächlich tänzerisch weitgehend zweitklassig über die Bühne gegangen war. Vor allem fehlte der von allen, die ihn kannten, gerühmte Charme Crankos.

Es wurde deutlich, dass es sich ausgezahlt hatte, dass der 78-jährige niederländische Meisterchoreograf selbst bei den Endproben der Einstudierung seines fünf Jahre alten Stücks dabei gewesen ist. Die Tanzüberlieferung ist nämlich eine delikate Angelegenheit. Es gibt zwar Notationen, und mit der von Benesh entwickelten Tanzpartitur seit rund fünfzig Jahren eine recht bewährte, doch ist sie wie die der Musik rudimentär. Film- und Videoaufnahmen helfen heute. Doch was, wenn wie im Falle von John Cranko nicht alles filmisch dokumentiert ist?

Immerhin befinden sich im ZDF-Archiv vollständig zwei Hauptwerke, die in den frühen Siebzigern produziert wurden: "Der Widerspenstigen Zähmung" und "Romeo und Julia"; "Onegin" folgte 1984. Außerdem gibt es "Begegnung in drei Farben", aufgezeichnet 1968, "Présence" (1970) sowie "Brouillards" (1977). Und im Archiv des Südwestrundfunks finden sich vollständige Aufzeichnungen von "Opus 1", "Jeu de Cartes", "Hommage au Bolshoi" und "Salade" - historisch wertvolles Anschauungsmaterial. All dies ist nie auf DVD erschienen - und wie es aussieht, wird es das auch nicht so bald. Denn der Erbe verhindert bis heute jede Veröffentlichung. Auch aktuell gibt es von keinem Cranko-Ballett eine kommerzielle DVD. Musteraufführungen der Cranko-Kompanie par exellence, der Stuttgarter? Fehlanzeige.

Dieses Ensemble steht vor einer entscheidenden Dekade. In ihr werden die letzten Protagonisten, die noch mit John Cranko zusammengearbeitet haben, ihre aktive Laufbahn beenden. Auch wenn mit Reid Anderson, dessen Vertrag bis 2012 terminiert ist, über eine dreijährige Verlängerung verhandelt werden soll: 2015 wäre der Kanadier 66 Jahre. Schon jetzt dringen Stimmen aus dem Umkreis des Balletts, dass der Chef zwar jeden Aufführungstermin der Saison auswendig parat habe, ansonsten aber wenig präsent sei in der Direktion. "Stuttgart ist für mich wie ein bequemer alter Pullover", hat Anderson vor ein paar Jahren mal in einem Buch über die Stadt gesagt. 

Seite 3: Stuttgarter Situation ist zwiespältig

Im Hinblick auf Crankos Werke gleicht die Aufgabe des Stuttgarter Balletts der eines Museums. Gute Museen bestechen ja zunächst mit ihren Dauerausstellungen - dafür braucht es Kuratoren, die das Erbe sichten, es arrangieren, zu Gruppen ordnen, die einzelne Werke auf ihre Restaurierungsbedürftigkeit prüfen und sie entsprechend pflegen. Das Problem: der Direktor der Stuttgarter Sammlung heißt nicht Anderson, sondern Dieter Gräfe, Andersons Lebensgefährte. Er ist der Cranko-Erbe und hält alle Aufführungsrechte an dessen Werken, die sich - vor allem die Handlungsballette - bis heute bestens verkaufen. John Cranko wird in Japan, Kanada, USA und Brasilien aufgeführt, die Tantiemen fließen nach Stuttgart. Kommt hinzu, dass Dieter Gräfe allein entscheidet, welche Kompanie die Ballette aufführen darf und mit wem die Hauptrollen besetzt werden. In Erinnerung ist der Fall Margret Illmann.

1998 sollte die Stuttgarter Primaballerina erstmals die Tatjana in Crankos "Onegin" tanzen; zweieinhalb Wochen hatte sie nach eigener Aussage ohne Beanstandung mit Reid Anderson - damals seit zwei Jahren Chef in Stuttgart - diese Traumrolle einstudiert, außerdem mit Marcia Haydée geprobt, die die Rolle mit dem Choreografen 1965 kreiert hatte. Am Aufführungstag wurde Illmanns Debüt abgesagt. Gräfe hatte den Daumen gesenkt. Auch die Einladung von italienischen Kompanien an Illmann, Cranko-Rollen in Rom und Neapel zu tanzen, wurden hinfällig - Gräfe verweigerte die Zustimmung.

Nun ist es gutes Recht und verbreitete Praxis, dass Choreografen oder deren Nachfahren beziehungsweise Rechteinhaber sich all diese Entscheidungen vorbehalten. Kein Ballett von George Balanchine, Jerome Robbins oder William Forsyth darf ohne Zustimmung und Kontrolle über seine Einstudierung aufgeführt werden. Das kann einschließen, welcher Ballettmeister die Proben leitet.

Sicherung des Nachlasses liegt in wenigen Händen

Freilich ist die Stuttgarter Situation zwiespältig, wirkt sie sich doch unmittelbar auf das Tagesgeschäft und das Klima in der Kompanie aus. Wie kann ein Intendant seine Autorität sichern, wenn potenziell seine Entscheidungen täglich von einer außerhalb der Institution stehenden Instanz gelenkt werden können? Anderson hat die Lösung für sich gefunden, indem er so tut, als hätten Berufs- und Privatsphäre nichts miteinander zu tun. Ein einigermaßen seltsames Unterfangen bei dem familiären Anstrich, den man sich in der Kompanie ansonsten gerne gibt (Reid sagt, Dieter meint und John hat einst gesagt...).

Die Sicherung des Nachlasses liegt in wenigen Händen: denjenigen, die die Tradition weitergeben, den Choreologen, also den Tanzschriftexperten, und den Ballettmeistern. Gerade damit sieht es nicht gut aus, meinen Kenner der Stuttgarter Szene. Hier betreuen sechs Ballettmeister das Repertoire. Die um neun Tänzer kleinere Hamburger Truppe beschäftigt acht Ballettmeister, wobei in Hamburg der Produktionleiter und die Choreologin zusätzliche eigene Positionen sind, während sie in Stuttgart von den Ballettmeistern mit übernommen werden müssen. Zwar ist die Stuttgarter Choreologin die beste Anwältin von Crankos Balletten, allein: die beeindruckende Dame ist vor wenigen Tagen 83 geworden.

Noch wuselt Georgette Tsinguirides mit den Tanzpartituren in der Hand herum, probt und studiert, doch an wen könnte sie ihr unermessliches Wissen weitergeben? Bis zum Ende der Spielzeit 2008/09 gab es immerhin eine zweite Choreologin, Birgit Deharde. Sie wurde nicht ersetzt.

Und der Erbe selbst? Dieter Gräfe hat bis jetzt keine Stiftung gegründet, die den physischen Nachlass (Tanzpartituren, Aufzeichnungen, Filme) bündelt und sichert. Die alten U-matic-Videobänder beginnen zu "zerbröseln", so die Pressesprecherin Vivien Arnold, und es gibt Versuche sie durch Digitalisierung zu retten. Aber eine systematische, institutionelle Erfassung all dessen ist bis jetzt nicht durch den Rechteinhaber in die Wege geleitet worden. Wer also betreut und steuert die Vergabe und Pflege der Cranko-Ballette in fernen Zeiten?

Die Gelegenheit, zu diesen Fragen Auskunft zu geben, hat der 1939 geborene Gräfe nicht ergriffen. Eine schriftliche Bitte dieser Zeitung um ein Interview blieb unbeantwortet, am Telefon lehnte er ein Gespräch ab, mit Kritikern und Journalisten spreche er grundsätzlich nicht: "Ich bin zu oft beschädigt worden", sagte er. Es ist das gute Recht von Gräfe, dies zu tun - ein anderes, ob es im Sinne von Crankos Erbe richtig ist. Etwas pathetisch gesagt: die Ballette dieses zentralen Choreografen des 20.Jahrhunderts sind Teil des Kulturerbes. Weiter gedacht: Eigentum verpflichtet. Wenn durch das Gemeinwesen getragene Kompanien in Hamburg, Berlin, München und eben Stuttgart einen "Onegin" aufführen und mit Mitteln der öffentlichen Hand dafür Lizenzen erwerben, dann darf diese Öffentlichkeit zumindest fragen dürfen: Wer auf welche Weise John Crankos künstlerisches Vermächtnis sichert?

John Neumeier, einer seiner Schüler und ein produktiver Choreograf, hat rechtzeitig gehandelt. 2006 hat der Hamburger Ballettchef eine Stiftung gegründet, die das leistet, was John dem Älteren zustünde.