Das „schlecht behütete Mädchen“ mag viele Jahre auf dem Buckel haben – seine Zuschauer mitreißen, insbesondere auch die jüngeren, kann es noch immer, wie sich am Samstag im Opernhaus zeigt. Die Stuttgarter Kompanie präsentiert mit „La fille mal gardée“ beste Unterhaltung für die Familie.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Es dürfte nicht viele Ballette geben, in denen eine der Hauptfiguren in karierten Pantoffeln ihren ersten Auftritt hat. In „La fille mal gardée“ stürmt Roman Novitzky als Witwe Simone in solchen die Treppen in den Hof hinunter, um der Tochter Lise, getanzt von Elisa Badenes, die verliebten Flausen aus dem Kopf zu treiben und sie zum Butterstampfen zu verdammen. Auf den ersten Blick mag die Choreografie von Sir Frederick Ashton, die aus dem Jahr 1960 stammt, vor 18 Jahren in Stuttgart erstaufgeführt und nun vom Stuttgarter Ballett wieder aufgenommen wurde, so trutschig und altbacken anmuten wie dieses Schuhwerk.

 

Olle Kammelle mag man denken, wenn sich der mit einem naiven Arkadien bemalte Bühnenvorhang hebt und man in das Pappmache-Gehöft von anno dazumal von Osbert Lancaster blickt. Doch was in den von einer Pause unterbrochenen gut zwei Stunden folgt, belehrt einen eines Besseren: beste Ballett-Unterhaltung!

Die alte Geschichte einer jungen Liebe

Das Stück hat Schwung, gewinnende Charaktere, choreografische Ausgefeiltheit, die richtige Mischung aus ausgelassenen, folkloristischen Ensemble-Szenen und anmutigen Duetten, etliche Überraschungsmomente und jede Menge Comedy. Dieses „schlecht behütete Mädchen“ mag viele Jahre auf dem Buckel haben, aber seine Zuschauer mitreißen, insbesondere auch die jüngeren, kann es noch immer, wie sich am Samstag im Opernhaus zeigt.

„La fille mal gardée“, kurz vor der Französischen Revolution 1789 uraufgeführt, gilt als erstes Ballett, das die Stoffe der griechischen Mythologie hinter sich lässt und Figuren aus dem Volk in den Mittelpunkt stellt. Ashton (1904–1988), zum Sir geadelter britischer Meister-Choreograf, formte daraus zu der von John Lanchbery neu arrangierten Musik von Ferdinand Hérold etwas Rares im Ballett-Fundus: eine Komödie. Erzählt wird die alte Geschichte einer jungen Liebe, die sich von nichts und niemandem aufhalten lässt – im Fall von Lise und dem jungen Landwirt Colas auch nicht von Lises gestrenger, aber eben nicht durchweg wachsamer Mutter, die ihre Tochter lieber mit Alain verkuppeln würde, dem tollpatschigen Sohn des wohlhabenden Weingutbesitzers Thomas.

Roman Novitzkys Bauernfrau ist zwar eine grob gezeichnete Witzfigur à la Witwe Bolte, die gern mit ihrem dicken Hintern wackelt, und der Erste Solist hat sichtlich Vergnügen an dieser Karikatur. Und trotzdem erlaubt ihm Ashton tänzerisch aufzutrumpfen, wiederum in originellem Schuhwerk – bei einer furiosen Stepp-Einlage in gelben Holzpantinen.

Die Spitzentanz-Fee und das Pirouetten-Ass

Elisa Badenes wiederum hat alles, was diese Lise braucht, um in den Bann zu ziehen: Liebreiz, Frechheit, Eigenwilligkeit und tänzerische Bravour: schwindelerregend, wie sie in Taqueté-Sequenzen die Füße fliegen lässt, betörend, wie sie in Bourrées über die Bühne schwebt. Ist die Erste Solistin die flirrende Spitzentanz-Fee, so ist Adhonay Soares da Silva als Colas das Sprung- und Pirouetten-Ass. Mit traumwandlerischer Sicherheit dreht der Solist um die eigene Achse, spreizt sich ausgreifend durch die Lüfte, landet auf den Punkt. Soares da Silva hält Kraft, Athletik und Eleganz austariert und bewahrt sich bei aller Kunstfertigkeit seine natürliche Ausstrahlung. Musik und Tanz korrespondieren durchweg – dank Wolfgang Heinz und dem Staatsorchester, das versucht, Hérolds orchestraler Schwülstigkeit Frische zu geben.

Einen starken Auftritt hat auch sein nicht wirklich ernst zu nehmender Gegenspieler Alain: meisterhaft, wie Louis Stiens clowneske Tapsigkeit und tänzerische Wucht und Präzision zusammenführt und seiner traurig-komischen Gestalt Würde verleiht. Es sind denn auch die tänzerischen Spitzenleistungen und so hübsche choreografische Einfälle wie die Wickel- und Strahlenkranz-Spiele mit farbigen Bändern, die einen vergessen lassen, dass Ashton hier im Grunde den seichten Heimatfilm der Fünfziger und Sechziger auf die Ballettbühne stemmte.

Und so macht sich Ungeduld breit, wenn im zweiten Akt erst arg viel pantomimisch erzählt und wenig getanzt wird. Doch wenn dann Badenes und Soares da Silva ihren finalen Hochzeits-Pas de deux mit hinreißenden Hebungen hinlegen, ist alles wieder gut. Am Schluss setzt Colas seine Lise vor sich ab wie ein rohes Ei – übrigens ganz ohne das Zutun der lustigen, von Cranko-Schülerinnen dargestellten Hühner-Schar und ihrem stolzen Gockel.