Der Nachtschicht-Gottesdienst zum Kirchentag im Hospitalhof wird zur Generationendebatte und zu einem Lehrstück, wie Kirche Orientierung in Zeiten der Pandemie bieten kann.

Stuttgart - Der 3. Ökumenische Kirchentag (ÖKT) war anders – digital und dezentral. Ob es damit überhaupt ein Kirchentag im klassischen Sinne war, muss jeder für sich entscheiden. Denn das große Christentreffen, ganz gleich ob evangelisch oder katholisch, lebte bisher von der physischen Präsenz und der Gemeinschaft. Ein Hauch davon verbreitete am Samstagabend Pfarrer Ralf Vogel mit seinem Nachtschicht-Gottesdienst im Hospitalhof. Unter strengsten Corona-Sicherheitsmaßnahmen zelebrierten etwa 100 Besucher so etwas wie Kirchentag light als offiziellen Beitrag zum ÖKT.

 

Inhaltlich lieferten Vogel, der Musiker Patrick Bopp und der Soziologe Hartmut Rosa jedoch wieder einmal Schwerwiegendes ab. Und zwar in ihrer Interpretation des Kirchentag-Mottos „Schau hin!“. Das Trio schaute nicht nur genau hin, sondern legte die Finger in die Wunden der Jugendlichen. Natürlich nicht ex cathedra – von der Kanzel herab über die jungen Menschen – eher Nachtschicht-gemäß mit und von Jugendlichen gestaltet. Dass der Gottesdienst damit auch das ÖKT-Abschlussthema „Generationendebatte“ spielte, mag dem Zufall geschuldet sein. Tatsächlich aber sind derzeit wenige Themen aktueller und relevanter als dieses. Und will Kirche nicht genau das abbilden? Will sie nicht genau darauf antworten, wie der Mensch mit der Religion in einer fragilen Welt Halt und Orientierung finden kann? Auf die Jugend in Zeiten der Pandemie übertragen, muss das heißen: Wie finden junge Menschen zwischen Lust am Ausprobieren und Sorge vor der Zukunft neue Lebensmöglichkeiten? Oder wie es Rosa und Vogel nennen: „Neue Spielräume.“

Was die Jugendlichen in diesen Zeiten brauchen

Und nichts scheint die in der Coronakrise fast vergessene Generation mehr zu brauchen als das: „Zeit und Raum, das Leben auf kreative Weise beginnen zu können“, wie Vogel meint. Bestätigt wurde er durch eine kleine Umfrage unter etwa 100 Jugendlichen, die Professor Rosa beisteuerte. Wissenschaftlich nicht repräsentativ und dennoch in ihren Aussagen gehaltvoll. Auf die Frage, was für die Jugendlichen den Reiz am Lebens-(Spiel) darstellt, antworten sie im Grunde alle mit einer Formel. Sie wollen Dinge tun, die einen in den Flow, den Fluss des Lebens bringen. Und gäbe es in der Grammatik eine Zeitform für dieses Narrativ müsste man es Sehnsuchtsform nennen. Rosa zieht daher den Schluss: „Jugendliche brauchen mehr Spiel in der Gesellschaft.“ Sie brauchen „die Möglichkeit, Umwege gehen zu können“ (Rosa), die Chance aus dem Wagnis des Unerwarteten zu schöpfen oder sich in der „Disziplin des Nichtwissens zu üben“ (Bopp). Daher pochen die Jugendlichen in Rosas Umfrage auch auf das Recht, ihr Leben in ganz neuen Regeln ihre Spielräume auszutesten. „Es gibt keine Zwangsläufigkeit, die Wahrheiten sind nicht in Beton gegossen“, mahnen die Jugendlichen in Bezug auf den Klimawandel oder den Generationenvertrag an.

Die etwas andere Triage

Mehr beunruhigt Hartmut Rosa jedoch die aktuelle Situation der jungen Menschen, deren Interessen in der Pandemie allzu oft hinten angestellt werden. „Das Leben der jungen Menschen ist seit einem Jahr stillgelegt. Psychologen erleben gerade eine andere Art von Triage“, sagt der Professor, „sie können gar nicht mehr allen helfen“. Auch Ralf Vogel stellt nüchtern fest: „Sie fühlen sich vom Leben ausgesperrt.“ Wie sich das ändern lässt? Natürlich durch neue Spielräume, die auch der Glauben bietet, wie eine Jugendliche meinte: „Die Wunder wurden aus der Welt hinaus komplementiert“, sagt sie, „aber gerade Jesus hat doch gesagt, dass wir das Unerwartete ohne Angst erwarten dürfen“.

Die Nachtschicht wird aufgezeichnet und ab dem 30. Mai auf www.nachtschicht-online.de, bei bwfamily.tv am 30. Mai um 10; 17 und 19.30 Uhr sowie bei BIBEL.TV am 20. Juni um 11 Uhr zu sehen sein.