Mehr als ein Drittel der Flüchtlinge und Neuzugewanderten mit Ausbildungsvertrag in Stuttgart können nicht ausreichend Deutsch. Das hat eine Erhebung der Stuttgarter Berufsschulen ergeben. Auch Kammern und Politik zeigen sich alarmiert.

Stuttgart - Mehr als ein Drittel der Flüchtlinge und Neuzugewanderten in Stuttgart mit einem Ausbildungsvertrag hat ein massives Sprachdefizit und kann kaum Deutsch. Das belegt eine Erhebung der Stuttgarter Berufsschulen. Kammern und Politik zeigen sich alarmiert. Felix Winkler, der Leiter der Schule für Farbe und Gestaltung in Feuerbach und geschäftsführender Leiter der gewerblichen Schulen, hatte die Erhebung initiiert. „Es ist noch gravierender, als ich ursprünglich vermutet hatte“, sagt Winkler.

 

Den Sprachtests und Einschätzungen von Deutschlehrern an 21 Berufsschulen zufolge können von den 1000 neuzugewanderten Azubis 378 Lehrlinge nur rudimentäres Deutsch auf A1- und A2-Niveau. 490 verstehen klare Standardsprache und können auch kurze Erklärungen abgeben (B1-Niveau). Nur 116 Azubis finden sich mit komplexeren Themen sprachlich zurecht und können sich an Fachdiskussionen beteiligen (B2). „Wer in eine Ausbildung geht, braucht mindestens B2 in Deutsch“, sagt Winkler. „Denn es geht bei uns auch ganz stark um Fachsprache.“

Insgesamt seien die befragten Betriebe zwar zufrieden mit der praktischen Arbeit ihrer Azubis. Aber beim schriftlichen Teil, „da knirscht’s“, so Winkler. Das gefährde den Ausbildungserfolg massiv. „Man muss jetzt die Reißleine ziehen“, meint er. Das findet auch Bildungsbürgermeisterin Isabel Fezer: „Wir sitzen da auf einer Art Zeitbombe.“ Für diesen Mittwoch lädt sie deshalb zu einem Ausbildungsgipfel ein. „Wir müssen nachsteuern, so schnell wie möglich“, so Fezer.

Berufsschulleiter fordern systematische Sprachtests

Mit seinen Kollegen von den hauswirtschaftlichen und kaufmännischen Schulen hat Winkler ein Positionspapier erarbeitet. Die Pädagogen schlagen systematische Sprachtests vor, am besten vor Ausbildungsbeginn, einen individuellen Ausbildungsplan abhängig vom Sprachniveau, zusätzliche Sprachförderung, etwa durch einen zweiten Berufsschultag, sowie das Begleiten der Azubis bis zum Abschluss durch eine Ausbildungsassistenz.

Das würde auch Amadou Fadera gefallen. Der 30-Jährige ist seit vier Jahren in Deutschland, hat schon mehrere Sprachkurse hinter sich und ist angehender Maler und Lackierer im zweiten Lehrjahr. Die Berufsschule besucht er in Feuerbach, sein Betrieb ist in Göppingen. „Ich hab in Gambia als Maler und Fliesenleger gearbeitet“, sagt er. „Der Beruf ist schon okay. Aber mit der Sprache ist es schwierig – es gibt so viele neue Wörter, die ich nicht kenne.“ Die Deutsch-Nachhilfe in der Schule sei gut: „Wenn wir in der Fachsprache Nachhilfe hätten, das wär super. Aber dafür bräuchten wir einen zweiten Berufsschultag. Ohne Hilfe – das geht einfach nicht. Wir wollen unsere Ausbildung zu Ende bringen.“

Bei der Handwerkskammer unterstützen Willkommenslotsen die Flüchtlinge

Das wollen auch die Kammern. Dafür werde schon viel getan. Die Rückmeldungen der Betriebe seien „überwiegend gut“, so Julia Behne von der Handwerkskammer (HWK) Region Stuttgart. „Es gibt bei uns einen Willkommenslotsen, der Geflüchteten und Betrieben bei Fragen und Problemen hilft.“ Die HWK würde einen zweiten Berufsschultag begrüßen. „Die Bereitschaft der Betriebe ist da, ihre Azubis beim Lernen der Sprache zu unterstützen.“ Größere Firmen böten für ihre Mitarbeiter sogar eigene Deutschkurse, sagt Julia Behne.

Die HWK unterstütze drei Lösungen, die auf Landesebene beschlossen wurden: Flüchtlingen vor der Ausbildung einen siebenwöchigen Intensivsprachkurs anzubieten und in der Ausbildung fortzuführen, zusätzliche Sprachförderung in der Berufs- und der einjährigen Berufsfachschule und: Prüfungsaufgaben sollten sprachlich so einfach wie möglich sein. Eine auffällige Abbrecherquote gebe es bisher nicht, so HWK-Sprecherin Juli Behne. Allerdings hat ein Großteil der neuzugewanderten Azubis auch erst im September 2018 die Ausbildung begonnen.

Die IHK wünscht sich von den Berufsschulen schnellere Rückmeldung über Defizite

Die Industrie- und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart rät ihren Mitgliedsbetrieben, das B2-Sprachniveau zu Beginn der Ausbildung vorauszusetzen und B1 für eine Einstiegsqualifizierung, eine Art Langzeitpraktikum. Dieses solle bei Flüchtlingen unbedingt vorgeschaltet sein. Einen generellen zweiten Berufsschultag lehnten die Betriebe ab, so IHK-Sprecherin Anke Seifert. Allerdings werde dieser seit Schuljahr 2016/17 an ausgewählten Standorten als Modellversuch für leistungsschwache Azubis erprobt. Die Ergebnisse wolle man abwarten.

Ein zweiter Berufsschultag würde die Probleme bei der Lehrerversorgung verschärfen. Und: weniger Zeit im Betrieb könne den Ausbildungserfolg ebenfalls gefährden. Eine Ausbildungsassistenz sei „interessant“, die Finanzierung aber ungeklärt. Die IHK wünscht sich ein schnelleres Rückmelden und Miteinbeziehen der Arbeitsagentur, „wenn Defizite in den Berufsschulen erkannt werden – dies darf nicht am Datenschutz scheitern“. Weiterer Wunsch sei die Fortführung der Sprachprogramme. Auch Patenmodelle könnten helfen, so Seifert.

Kultusministerium baut zusätzliche Sprachförderung aus

Das Kultusministerium würde systematische Sprachtests der Kammern vor der Ausbildung befürworten. Einen zweiten Berufsschultag gebe es vom Stundenumfang her bereits, wenn zusätzlich zu den 13 Stunden Berufsschule vier Stunden Sprachförderung stattfinde. Viele Ausbildungsbetriebe verlangten aber, dass diese in der Freizeit stattfindet. Schulen zufolge seien nicht alle Azubis dazu bereit.

Flüchtlinge und Neuzugewanderte im Dualen System

Azubis
In Stuttgart ist die Zahl der Flüchtlinge und Neuzugewanderten, die einen Ausbildungsvertrag haben, im September 2018 stark gewachsen: von knapp 400 auf rund 1000. Davon sind 70 Prozent im Handwerk beschäftigt und erhalten Unterricht in den gewerblichen Berufsschulen. In der Region Stuttgart macht der Anteil der Flüchtlinge in der dualen Ausbildung im Handwerk zehn Prozent aus.

Abbrecherquoten
Im Handwerk liegen die Abbrecherquoten der letzten drei Jahrgänge insgesamt relativ konstant um 14 Prozent, es gibt laut Handwerkskammer Region Stuttgart bisher keine Auffälligkeiten. Die IHK Region Stuttgart meldet allerdings Unterschiede: Insgesamt liege in der Region Stuttgart die Abbrecherquote über alle Ausbildungsverhältnisse bei rund 20 Prozent. Bei den Azubis aus den neun Hauptherkunftsländern liege sie bei rund 27 Prozent, bei den Azubis mit ausländischen Pässen sogar noch etwas höher als 27 Prozent. Die Statistik unterscheide jedoch nicht zwischen Abbrechern und Berufswechslern innerhalb des Ausbildungsbetriebs.