Eine Annäherung und ein Besuch in der Werfmershalde und der Spitlerstraße bei der Stuttgarter Christengemeinschaft, deren Lehre von Rudolf Steiner geprägt worden ist.

S-Mitte - In diesem sakralen Raum an der Werfmershalde liegt Weihrauch in der Luft. Ein katholischer Duft. Doch die Nachfolger Christi sind weder der römisch-katholischen noch der protestantischen Kirche zuzuordnen. Hier gibt es kein Kruzifix an der Wand. Stattdessen hängt dort ein abstraktes Bild, das ein Lichtwesen sein könnte. Die Christengemeinschaft lässt sich im religiösen Koordinatensystem nicht so leicht verorten. Auch wenn die Gründer allesamt aus dem evangelischen Lager stammten. Damals, anno 1922, in Stuttgart, als 45 junge Theologen mehr suchten, als die beiden großen christlichen Kirchen anzubieten hatten. Sie hatten andere Sehnsüchte in einer zerbrechenden, materialistischen Welt.

 

„Es war damals eine Zeit des Umbruchs“, erklärt der Stuttgarter Pfarrer Marcel Frank, „angesichts der Tragik des Ersten Weltkrieges fragte man sich, wie religiöses Leben gestaltet werden könne.“ Damals wie heute scheinen sich die Dinge zu wiederholen: Menschen meinen, die Welt und das Leben gerieten aus den Fugen. Waren es gestern die Kriegswirren, sind es heute Themen wie Klimawandel, Digitalisierung oder die Ohnmacht gegenüber der entfesselten Bürokratien. Damals inspirierte der Anthroposoph Rudolf Steiner die jungen Theologen. Er gab Antworten auf die Frage, wie religiöses Leben gestaltet werden und auch Einfluss auf soziale Lebensfelder haben kann.

Zahl der Gläubigen überschaubar

Es ist wie überall: Dort, wo die Amtskirche im Alltag der Menschen an Bedeutung verliert, sprießen andere spirituelle Angebote. Doch im Gegensatz zu den fernöstlichen Traditionen, profitiert die Christengemeinschaft kaum von den neuen Suchenden. Es gibt in dieser Religionsgemeinschaft, die offiziell keine anthroposophische Kirche sein will, kein Auf und Ab. „Wir haben stabile Mitgliederzahlen“, sagt Marcel Frank. Freilich ist die Zahl der Gläubigen in Stuttgart-Mitte (etwa 600 Haushalte) überschaubar, aber diese Kirche bindet offenbar stark. Auch ohne Zwangsabgaben oder standesamtlich eingetragener Mitgliedschaft. Nicht zuletzt hat diese innere Bindung wohl auch zu einem gewissen Wohlstand geführt. Das Gemeindezenzentrum in der Werfmershalde sowie das Priesterseminar in der Spitlerstraße sind ein ansehnlicher Immobilienschatz.

Das Priesterseminar ist auch das spirituelle Zentrum der Christengemeinschaft. „Hier werden Priester für die ganze Welt ausgebildet“, sagt Frank. Derzeit sind es 30 angehende Priester. Darunter ist auch die Schweizerin Daniela Grieder, deren Lebensweg in gewisser Weise sehr gut zur Christengemeinschaft passt. Vieles bei ihr klingt vertraut und ist doch fremd. Manches erklärt sich jedoch mit dem zweiten Blick oder über Umwege. Grieder ist vom Buddhismus, dem Christentum und der Anthroposophie geprägt, aber war nirgendwo richtig zu Hause. Die evangelische Kirche hat sie nicht „berührt“ und in der katholischen Kirche ist sie „auch nicht fündig“ geworden. Einer ihrer Lieblingssätze lautet daher: „Der Umweg ist geistig gesehen oft der direkteste.“

Sie lässt sich nun im reifen Alter von 53 Jahren zur Priesterin ausbilden. Ihre Hinwendung zu dieser Kultusgemeinschaft, die sie wortreich erklärt, ist nicht leicht zu verstehen. Denn auf den ersten Blick fehlt die Differenz zum evangelischen oder katholischen Glauben. Schließlich erkennt die Christengemeinschaft die gesamte christliche Überlieferung an. Gleichwohl geht sie wesentliche Schritte weiter: Zum Beispiel glaubt man hier an Reinkarnation und Karma. Nicht zuletzt werden die Taufen der Christengemeinschaft mit Wasser, Salz und Asche nicht von den Amtskirchen anerkannt.

Ein neuer Erkenntnisweg

Gleichwohl ist es eines von vielen Ritualen, die Menschen Halt geben. „Alles, was ich hier erlebe, macht auf einmal Sinn“, sagt die frühere Grafikerin aus Zürich, „der ganze Kosmos macht Sinn in Verbindung zu mir.“ Für sie war der Einzug ins Priesterseminar ein „Heimkommen“. Das erste Mal habe sie das Gefühl, mit ihrem ganzen Wesen auf dem richtigen Weg zu sein. Es sei ein neuer Erkenntnisweg.

Ein Weg, den man offenbar (mit)-gehen und erleben muss. Zum Beispiel in einer „Menschenweihehandlung“, vulgo: einem Gottesdienst. Denn eine offizielle, verbindliche Lehre oder Dogmen gibt es nicht. Im Mittelpunkt stehen jedoch sieben Sakramente (Taufe, Konfirmation, Menschenweihehandlung, Beichte, letzte Ölung, Trauung, Priesterweihe) und das Neue Testament, in dem der Tod und die Auferstehung Jesu Christi das entscheidende Ereignis der Menschheitsgeschichte ist. Dennoch gibt es kein klassisches Glaubensbekenntnis, wie es Christen beten. Das Bekenntnis der Christengemeinschaft ist ein Credo, das von Rudolf Steiner stammt, und als unantastbar gilt.

Was also ist die Christengemeinschaft? Eine Mischung aus ein bisschen Katholisch, ein wenig Evangelisch mit einer starken Prise Anthroposophie? Mit einer definitiven Entscheidung tut sich selbst der evangelische Oberkirchenrat Stuttgart schwer. Ein 2004 erschienenes Buch unter dem Titel „Die Christlichkeit der Christengemeinschaft“ ist lediglich ein „Beitrag zur Diskussion“, keine abschließende Antwort. Kurzum: Vieles von dem, was in der Werfmershalde 19 gesagt oder getan wird, lässt sich schwer übermitteln, dafür leichter zu erspüren. Zum Beispiel in einer Begegnung mit Daniela Grieder. Ihr spiritueller Weg, ihr Sosein in dieser Gemeinschaft Christi sind ein lebendiges Zeugnis für die Werte der Gründer 1922. Es ist nicht viel mehr – aber auch nicht weniger.