Dietmar Böhringer ist der Leiter und Mäzen eines Singkreises für Blinde und Sehbehinderte. Deshalb hat ihn die Jury zum Stuttgarter des Jahres gewählt.

Stuttgart - Viel Positives in seinem Leben, so sagt der Chorleiter Dietmar Böhringer, sei durch einen glücklichen Zufall entstanden. Fragt man die Mitglieder seines Chores, so war seine Tatkraft mindestens ebenso ausschlaggebend. Für die blinden oder sehbehinderten Sängerinnen und Sänger, für die er seit vielen Jahren mehrstimmige Lieder sucht und aufbereitet, ist die gemeinsame Freizeit mit ihrem Leiter ein Höhepunkt des Jahres. Deshalb nominierte ihn das Gründungsmitglied Sonja Prinz für den Stuttgarter des Jahres.

 

Der Ehrenamtspreis der Stuttgarter Zeitung und der Stuttgarter Versicherung steht Dietmar Böhringer aus mehreren Gründen zu: Neben der Chorarbeit singt er seit seiner Pensionierung regelmäßig mit Kindergartenkindern. Seit Jahrzehnten leistet er Überzeugungsarbeit für barrierefreies Bauen. Und neuerdings setzt er sich in seinem Wohnort Warmbronn bei Leonberg für die Vermittlung von Heimatgeschichte ein.

Bei den Proben während der Chorfreizeiten geht es so fröhlich zu, dass ein Herbergsleiter dem „Singkreis der Nikolauspflege“ einen neuen Namen gab: „Der etwas andere Singkreis“ nennen sich die Sängerinnen und Sängerinnen seither.

Dabei ist ihrem Leiter die Fröhlichkeit nicht in die Wiege gelegt: Als Kriegskind erlebte der 1943 in Maulbronn geborene Böhringer nächtelang Bombenalarm und schließlich Panzer. Der Vater blieb in Russland vermisst, die Mutter musste sich mit zwei Söhnen alleine durchschlagen. Als Neunjähriger zog der Junge mit der Familie nach Pfullingen, nach der Bundeswehrzeit ließ er sich in Reutlingen zum Lehrer ausbilden – Schwerpunkt Physik.

Der Anstoß zur Chorgründung kam von den Schülern selbst

Durch einen Freund, dessen Schwester blind war, und einen Onkel, der am Kräherwald als Lehrer gearbeitet hat, kam Böhringer 1970 zur Nikolauspflege. Nach einem Zusatzstudium in Heidelberg und der Ausbildung zum Diplom-Pädagogen arbeitete er dort bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2006 als Lehrer für Blinde und Sehbehinderte. War er als Berufsanfänger in einer Grundschule auf der Schwäbischen Alb noch mit seiner Klasse von 60 Schülern zum Skifahren gegangen, so hatte er es in der Nikolauspflege mit deutlich kleineren Gruppen zu tun. Es waren jedoch sehr heterogene Klassen: Das Alter reichte von sechs bis 14, die Behinderung von eingeschränktem Sehvermögen bis zu vollkommener Blindheit, der Intelligenzgrad der Schüler von geistig behindert bis hochbegabt.

Der Anstoß zur Chorgründung kam von den Schülerinnen und Schülern selbst, die in den Pausen mehrstimmige Chorsätze übten, die sie an ihrer vorherigen Schule gelernt hatten. „Das hat mich fasziniert, und so brachte ich die Gitarre mit und begann alle Unterrichtsstunden erst einmal mit einem Lied“, erzählt Böhringer von den Anfängen. Die Gitarre, so sagt er, ist als „akustischer Taktstock“ für einen Blindenchor viel geeigneter als das etwas dominantere Klavier.

Heute, da die Gründungsmitglieder in alle Winde verstreut leben, konzentriert sich die Arbeit neben gelegentlichen Auftritten bei Gottesdiensten auf die Chorfreizeiten, zu denen die bis zu 45 Mitglieder aus ganz Deutschland anreisen. Darunter sind auch viele Sehende: ehemalige Betreuer, die dem Chor die Treue gehalten haben.

Bei einem Konzert Freude schenken

Was unterscheidet diesen „etwas anderen Singkreis“ von den üblichen Chören? Nicht die Literatur, die von mehrstimmigen Chorsätzen von Heinrich Schütz über Gospel bis hin zu den Songs der Beatles reicht. Geprobt wird nach Gehör, doch der Chorleiter stellt sicher, dass alle Mitglieder die Texte in einer für sie geeigneten Version bekommen: vergrößert, in Punktschrift oder als Lern-CD zum Hören. Entscheidend ist aus seiner Sicht aber etwas anderes: Diejenigen, denen von frühester Kindheit an vermittelt wird, dass sie beschützt werden müssen und Hilfe brauchen, sind bei einem Konzert plötzlich diejenigen, die Freude schenken. „Eine wichtige Erfahrung“, sagt der Pädagoge.

Bei seiner Arbeit als Singpate im Kinderhaus Warmbronn geht es einmal in der Woche eher um Basisarbeit: „Da singe ich die klassischen Kinderlieder, die ich für enorm wichtig halte, aber auch etwas von den heutigen Kinderliedermachern. Oder ich schreibe selbst den ein oder anderen Kanon“, erzählt Böhringer. Die Kinder reagieren sehr positiv, wenn er mit der Gitarre kommt, doch für die Zukunft wünscht er sich, auch deren Eltern mehr einbinden zu können.

In solchen Fragen kann der Pädagoge hartnäckig werden, und nicht immer macht er sich Freunde damit. Für sein Steckenpferd, das barrierefreie Bauen, eckt er immer wieder auch mal an. Mehr als 50 Vorträge hat er bundesweit gehalten, drei Bücher zu diesem Thema verfasst und in über 60 Artikeln versucht, der Öffentlichkeit bewusst zu machen, dass sich Barrierefreiheit nicht auf rollstuhlgerechte Zugänge beschränken darf. Es gebe deutlich mehr Menschen, die auf einer Treppe verunglücken als im Verkehr, zitiert er Statistiken. „Das Verrückte: Architekten wird empfohlen, bestehende Normen zu missachten. Entscheidend ist eben die Ästhetik, nicht die Sicherheit“, beklagt er und fordert, Treppenkanten durch Kontraste sichtbar zu machen und Handläufe 30 Zentimeter weit über das untere Ende einer Treppe ragen zu lassen. „Die meisten Unfälle passieren nämlich unten“, warnt er, und hat dabei nicht nur seine blinden Schützlinge im Sinn, sondern auch die älteren Mitbürger.