Mandy und Marcel Pierer organisieren Sport für Kinder im Rollstuhl, deren Geschwister und Freunde. Dafür wurden sie zur Stuttgartern des Jahres gewählt, einem Ehrenamtspreis, gestiftet von der Stuttgarter Versicherungsgruppe und der Stuttgarter Zeitung.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Was man nicht kennt, muss man eben lernen, um es sich anzueignen, haben sich Mandy (31) und Marcel Pierer (34) gedacht. Was also lag für die Eltern näher, als sich selbst in einem Rollstuhlkurs anzumelden, wenn der Sohn ein solches Gefährt braucht, um sich fortzubewegen? „Ich wollte wissen, wie man etwa über Kanten fährt“, sagt Mandy Pierer, als sei ein solches Denken das Selbstverständlichste auf der Welt.

 

„Andere Eltern bringen ihren Kindern das Fahrradfahren bei“, erzählt sie weiter. Wie das geht, weiß man aus eigener Erfahrung. Wie man aber einen Rollstuhl fährt, das wisse man nicht. Und dass ihr Sohn, obwohl er nicht selbstständig laufen kann, einen ungeheuren Bewegungsdrang hat, das merkten die Eltern schon daran, wie er sich als Säugling durch die Gegend robbte. Mit zwei Jahren setzten sie ihn in einem Minirollstuhl. Er sollte nicht immer nur im Buggy durch die Welt gefahren werden. Er sollte sich in ihr fortbewegen können, ohne ständig dabei Hilfe zu brauchen. „Wir wollen, dass Henry ein selbstbestimmtes Leben führt“. Autonomie hängt mit den Möglichkeiten zusammen, die einem früh eröffnet werden. Dafür ist Henry der Beweis.

Vorbilder im Rollstuhl sind wichtig

Heute ist er zehn Jahre alt, kommt gerade vom Schwimmen und will am nächsten Tag zum Minigolfen. Er hat Freunde, die einen Rollstuhl brauchen, und Fußgänger-Freunde, wie bei den Pierers die Freunde ohne körperliche Einschränkungen heißen. Henrys zwei kleinere Schwestern können wie er mit dem Rollstuhl um die Ecken fegen. „Das macht allen richtig viel Spaß“, sagt ihre Mutter. Und es nimmt Henrys Lebenswelt ernst. Dazu gehört auch, dass der Sohn Vorbilder braucht. Das ist für ein Kind wie ihn nicht so leicht wie für andere.

Es wird viel gelacht bei den Pierers, auch wenn das Ziel ein großes und wichtiges ist. Der Sport und das Selbstbewusstsein, das Henry daraus zieht, haben großen Anteil daran, dass es bei den Pierers so entspannt zugeht – abgesehen vom ganz normalen Familienstress und der Aufregung um Henrys erstes Mobiltelefon als Belohnung für den Wechsel auf eine weiterführende Schule.

Dass Henry so ist, wie er ist, haben er und die anderen Kinder, die bei den MTV-Wheelers Sport machen, Mandy und Marcel Pierer zu verdanken. Die dachten vor drei Jahren, als sie einen Verein suchten, in dem ihr Sohn Sport treiben könnte: Was es nicht gibt oder was eingeschlafen ist, muss man wohl selbst machen und reaktivieren. Mit fünf Kindern fingen sie an. Heute kommen 15 Kinder mit ihrem Geschwister- und Freundesanhang zur quasi inklusiven Kinder-Rollstuhlsportgruppe des MTV Stuttgart. Dort lernen sie Sportarten wie Volley- oder Basketball, Fechten und Badminton kennen. Für das nächste Jahr plant Marcel Pierer eine Wheel-Soccer-Veranstaltung für Stuttgart. Für ihr Engagement ist das Paar bei einer großen Gala im Veranstaltungszentrum Wizemann in Bad Cannstatt im Rahmen einer Ehrenamtspreis-Aktion, gestiftet von der Stuttgarter Versicherungsgruppe und der Stuttgarter Zeitung, zu Stuttgartern des Jahres gekürt worden.

Die Samstage sind wie eine Wundertüte

Immer mal wieder kommen erwachsene Behindertensportler zu den Trainingsstunden. „Wenn so jemand dann selbst mit dem Auto vorfährt, ist das ein Vorbild, wie es die Kinder brauchen“, sagt Mandy Pierer zufrieden. Die Möglichkeit, solche Menschen zu treffen und das Gemeinschaftsgefühl – etwa die Teilnahme aller am Stuttgart-Lauf – ist mindestens so wichtig, wie der Sport selbst, ist sie überzeugt.

Noch immer ist jeder zweite Samstag ein wenig wie eine Wundertüte. Nie wissen die beiden, wie viele Teilnehmer kommen und was sie können. Aber Mandy Pierer kann mittlerweile auf viel Erfahrung zurückgreifen. Und Marcel Pierer, der im Brotberuf IT-Experte ist, hat sich jede Menge Know how im Organisieren angeeignet hat. Wenn alles so gut weiter läuft, gibt es in absehbarer Zeit vielleicht auch spezialisierte inklusive Gruppen für ältere Sportler. An den Pierers wird es nicht scheitern.