Der „Stuttgarter des Jahres“ Alfred Weckherlin engagiert sich bei der Bahnhofsmission. Er kümmert sich um Obdachlose und Flüchtlinge, aber auch Menschen, denen nur ein Missgeschick passiert ist.

Stuttgart - Der junge Mann aus Marokko ist erleichtert, als Alfred Weckherlin ihn zum Zug bringt. Auf Gleis vier gehe es weiter in Richtung Schweiz, erklärt Weckherlin dem Asylbewerber auf Englisch und mit Händen und Füßen, während die beiden sich ihren Weg durch die Menschen auf dem Bahnsteig bahnen. Der junge Mann spricht Arabisch, Französisch und Italienisch – aber eben kein Englisch. Dass der Ehrenamtler von der Bahnhofsmission ihm hilft, versteht er jedoch – diese Sprache ist international. Zuvor war der Mann von der Polizei aufgegriffen und zur Bahnhofsmission gebracht worden. Seine Papiere sind in Ordnung, er kann seine Reise Richtung Italien, wo er Asyl suchen will, fortsetzen.

 

„Er ist nicht der typische Flüchtling“, erklärt Alfred Weckherlin. Üblicherweise hätten die Asylbewerber noch keine Papiere, die Mitarbeiter der Stuttgarter Bahnhofsmission müssten sie dann zur Aufnahmestelle nach Karlsruhe weiterleiten. Seit dem vergangenen Sommer habe dies deutlich zugenommen, berichtet Weckherlin. Der 67-Jährige hilft seit zweieinhalb Jahren bei der Bahnhofsmission. „Statt seinen Lebensabend ruhig zu genießen, möchte er aktiv bleiben und wortwörtlich etwas bewegen“, lobt ihn seine Tochter Julia Schäuble. Darum hat sie ihn als Stuttgarter des Jahres vorgeschlagen. Die Jury kürte Weckherlin zu einem von zehn Preisträgern, die am 23. März in den Wagenhallen für ihr ehrenamtliches Engagement geehrt worden sind. Die Stuttgarter Versicherungsgruppe und die Stuttgarter Zeitung hatten den Preis ausgelobt, der mit jeweils 3000 Euro dotiert ist.

Die Bahnhofsmission hilft jedem jederzeit

„Ich sehe das eher als eine Auszeichnung für die Bahnhofsmission als für mich“, sagt Alfred Weckherlin bescheiden. Immerhin gebe es so viele Mitarbeiter, die schon viel länger dabei seien als er. Insgesamt helfen mehr als 50 Festangestellte und Ehrenamtliche in der Stuttgarter Mission, die vom katholischen Verband In Via und dem Verein für Internationale Jugendarbeit getragen wird. Das Konzept der Bahnhofsmissionen in ganz Deutschland ist einfach: Sie helfen jedem jederzeit, ohne dafür Geld zu verlangen.

Die Sechs-Stunden-Schichten, die Weckherlin und seine Kollegen am Bahnhof absolvieren, sind dementsprechend abwechslungsreich. Manche Menschen kommen nur für eine Tasse Tee in den blau-gelben Container am Bahnsteig 16, in den die Mission wegen der Stuttgart-21-Arbeiten gezogen ist. Andere „haben im Zug zum Beispiel etwas verschüttet“, sagt Weckherlin. Ihnen hilft die Mission mit Kleidung. Obdachlose kommen, Flüchtlinge werden mit dem Nötigsten versorgt – oder es geht raus für die Mitarbeiter. Dann warten Aufträge. Zum Beispiel, wenn ein älterer Mensch zum Zug gebracht werden muss. Es gibt auch Stammkunden, etwa die sehbehinderten Jugendlichen der Nikolauspflege, von denen Weckherlin gerne erzählt. Sie fahren am Wochenende zu ihren Familien, die Bahnhofsmissionare bringen sie zum Zug. „Man kennt sich“, sagt Weckherlin. Die Jugendlichen würden sich immer richtig freuen, ihren Alfred zu treffen.

Bei den Kindern ist er einfach „der Alfred“

Einfach „der Alfred“ ist der pensionierte stellvertretende Leiter der Technischen Oberschule Stuttgart auch, wenn er mit „Kids on Tour“ durch die Republik reist. Das ist seine zweite Aufgabe bei der Bahnhofsmission. Zweimal im Monat begleitet er Kinder auf dem Weg zu Oma und Opa oder einem getrennt lebenden Elternteil. Das war anfangs eine Herausforderung für Weckherlin, dessen Tochter längst erwachsen ist und der als Mathematik- und Physiklehrer für Erwachsene keinen dienstlichen Erziehungsauftrag hatte. Die positive Rückmeldung der Kinder zeige ihm aber, dass seine Geduld beim stundenlangen Uno-Spielen oder Ausmalen von Mandalas, die er auch auf eigene Kosten besorgt, gut ankommt.

Über „Kids on Tour“ sei er erst zur Bahnhofsmission gekommen. „Ich habe davon gelesen und sofort gewusst, dass ich das machen will“, erzählt der Mann mit der blauen Dienstweste. 2012 war es Zeit für den Ruhestand. „Ich habe bis dahin immer 150 Prozent gearbeitet“, erzählt der promovierte Physiker. Die Aussicht aufs Nichtstun beunruhigte ihn. Deshalb behielt er einen kleinen Lehrauftrag an der Schule, zudem gibt er Stützkurse für angehende Abiturienten. Und er fand schließlich seinen Platz bei der Bahnhofsmission. Die Arbeit dort gewährte ihm einen ganz neuen Blick auf das Leben. „Mein Leben hat sich immer im akademischen Umfeld abgespielt“, sagt Weckherlin. „Jetzt sehe ich Dinge, die ich bisher nicht gesehen habe.“ Er genieße es, dass er, der immer ein privilegiertes Leben führen durfte, etwas zurückgeben kann.

Mit dem Rucksack durch Asien

Wenn Alfred Weckherlin nicht mit der Deutschen Bahn unterwegs ist, reist er mit dem Rucksack – am liebsten durch Asien. Die Menschen und Kulturen auf dem östlichen Kontinent fazinieren ihn. Auch diese Reisen würden ihm zeigen, „wie gut es uns eigentlich geht“, sagt Weckherlin.

Von seinen Erlebnissen in der Bahnhofsmission nimmt Weckherlin viel Positives mit. „Die Menschen sind sehr dankbar“, sagt er. Eine Begegnung habe ihn besonders bewegt. Ein junger Mann kam immer wieder nur zum Teetrinken, augenscheinlich ging es ihm nicht gut. „Eines Tages öffnete er sich uns und sagte, er wolle sich umbringen“, erzählt Weckherlin. Sofort holten er und seine Kollegen den Notarzt. Wenige Wochen später kam der junge Mann mit einem Blumenstrauß erneut in die Bahnhofsmission und bedankte sich dafür, „dass wir sein Leben gerettet haben“.