Anja Wicker studiert an der Uni Tübingen und reist mit der Nationalmannschaft der Behindertensportler um die Welt. Weil die Stuttgarterin ehrenamtliche Arbeit wichtig findet, ist sie gerne der Jury bei der Wahl zum Stuttgarter des Jahres.

Stuttgart - Teilweise irritiert, immer aber neugierig, haben die Spaziergänger Anja Wicker hinterhergeschaut, wenn diese mit ihrem Handbike oder ihrem Skiroller auf den Feldern bei Stammheim trainiert hat. Seit einem halben Jahr kommen auch andere Reaktionen: Da ruft schon mal ein Bauer von seinem Traktor herunter: „Ha, da isch sie ja, unser Goldmädle!“

 

Alles wegen Sotschi. Die Paralympics im vergangenen Winter in Russland haben das Leben von Anja Wicker verändert. Die Biathletin hat Gold über die zehn Kilometer gewonnen und sich damit einen Traum erfüllt. „Ich habe mich akribisch auf Sotschi vorbereitet, aber mit einer Medaille habe ich trotzdem nicht gerechnet. Das war der Wahnsinn“, sagt die 22-Jährige, die noch immer voller Ehrfurcht ist, wenn sie von dem Moment erzählt, in dem ihr die Goldmedaille umgehängt und die Nationalhymne gespielt wurde.

Aber es war nicht nur der sportliche Erfolg, von dem sie bis heute zehrt, es war auch die Atmosphäre bei den Wettkämpfen. „Früher standen bei den Paralympics immer nur die traurigen Geschichten der Behinderungen im Vordergrund“, sagt Anja Wicker, „aber in Sotschi ging es vor allem um den Sport.“ Sie war auch davon beeindruckt, wie die Russen ihre Athleten schätzen: „Die Behindertensportler ernähren mit ihren Erfolgen ihre ganze Familie.“

Anerkennung statt Mitleid, das wünscht sich jeder Behindertensportler, auch Anja Wicker, die von Geburt an durch eine Fehlbildung des unteren Rumpfes und der Wirbelsäule eingeschränkt ist. Die 22-Jährige lebt bei ihren Eltern in Stammheim, ist aber trotz ihres Rollstuhls sehr selbstständig. Sie fährt alleine Auto, zum Beispiel an die Uni nach Tübingen, wo sie im fünften Semester Sportmanagement studiert.

Anja Wicker musste nicht lange überlegen, ob sie als Jurorin beim Stuttgarter des Jahres mitmachen soll. „Ich finde es total spannend zu sehen, in welchen Bereichen ehrenamtlich gearbeitet wird.“ Dass es im Sport viel Engagement gibt, weiß sie am allerbesten: „Die Techniker und Physiotherapeuten bei uns in der Nationalmannschaft opfern ihren Urlaub, wenn sie mit uns um die Welt reisen.“ Die Helfer bekommen nur eine kleine Aufwandsentschädigung. „Aber die halten den Stall am Laufen“, sagt Anja Wicker, die sich jedes Mal freut, wenn sie mit der Nationalmannschaft zu Trainingslehrgängen geht. „Wir haben so viel Spaß miteinander“, sagt Anja Wicker und erzählt von ihrer besten Freundin, mit der sie bei Wettkämpfen und Trainingslagern ein Zimmer teilt. „Am Büffet spielen sich immer witzige Szenen ab, wenn ich ihr sage, was sie machen soll“, berichtet sie von den Erlebnissen mit der blinden Sportlerin.

Dass sie beim Biathlon gelandet ist, war auch ein bisschen Zufall. Schon immer hat Sport eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt: „Irgendwo musste ich mit meiner Energie hin“, sagt Anja Wicker, die Faustball, Tennis, Basketball und Fechten ausprobiert hat. Ihr Vater, der auch ihr Trainer ist, hat ihr vor zehn Jahren ein Handbike besorgt, bei dem man die Pedale mit der Hand dreht. In dieser Disziplin wurde sie so gut, dass sie zu Trainingslagern eingeladen wurde. „Da habe ich dann die Langläufer und Biathleten kennengelernt.“ Immerhin könne sie jetzt etwas Sinnvolles mit dem Winter anfangen.

Und wenn kein Schnee liegt, trainiert sie mit einem Skiroller. Auf den Feldern bei Stammheim hat sie sogar einen eigenen Schießstand. „Ein netter Bauer hat uns seine alte Scheune zur Verfügung gestellt, die er nicht mehr braucht“, sagt Anja Wicker.

Für die Zukunft hat sich Anja Wicker vorgenommen, häufiger an die Uni zu gehen („zum Glück haben die Dozenten großes Verständnis für alle Sportler, die zu Wettkämpfen gehen“), einen guten Weltcup zu schaffen, natürlich bei den nächsten Winter-Paralympics – 2018 im südkoreanischen Pyeongchang – am Start zu sein.

Die beeindruckende Medaillensammlung, die in Anja Wickers Zimmer von der Decke baumelt, soll sich also noch weiter vergrößern. Nur die olympische Goldmedaille ist an einem sicheren Ort aufbewahrt. Aber auch dort ist durchaus noch Platz für mehr.