In der Autostadt gibt es Radfahrer. Tatsächlich. Das hat auch die ARD überrascht. Es werden sogar immer mehr. Ihnen setzt der Film „Kessel­rollen“ nun ein Denkmal. Und wir auch. In unserer Kolumne 333.

Stuttgart -

 

Sie wollte am liebsten wieder absteigen. TV-Reporterin Kristin Becker war für das „Morgenmagazin“ der ARD durch Stuttgart geradelt. Ihr Fazit: „Ich finde Fahrradfahren in Stuttgart ganz schön ätzend!“ Ein verständliches Urteil. Aber doch ein falsches. Fahrradfahren in Stuttgart kann auch Spaß machen. Das zeigen Roman Högerle, Fabian Bazlen und Felix Länge mit ihrem Film „Kesselrollen“, der am Sonntag, 10. September, im Metropol Premiere hat. Und noch mal am 28. September gezeigt wird. Für die zweite Vorstellung gibt es noch Karten. Ihre Hauptdarsteller trotzen Hügeln, Autos und Feinstaub. Mit Freude und Enthusiasmus. Etwa der selbst ernannte Radologe Roland Wolbold mit seinem Laden in Lederberg, einem El Dorado für Rennradler. Schwindsucht und Schnitzbuckel prophezeite ihm seine Mutter, um ihm die Leidenschaft fürs Radeln auszutreiben. Vergebens. Mit Sohn Michail verkauft er nicht nur Räder, er baut sie auch selbst. Ein Tüftler also. Nicht nur da zeigt sich der Schwabe. Er ist stets direkt. Als ein stramm gebauter Mann bei Wolbold ein federleichtes Rennrad zu kaufen wünschte, sagte Wolbold: „Schauen Sie sich mal im Spiegel an – nackt und im Profil. Und dann sagen Sie mir, ob Sie immer noch genau dieses Rad wollen.“

Eine Fahrradstraße für die S-Klasse

Die Maßschneiderin Katharina Ruprecht fährt immer mit dem Rad. „Ich fahre zu meinen Kunden, hol’ die Sachen ab und schaffe sie wieder zurück.“ Was manchen Kunden bass erstaunt. Wenn sie etwa nach Degerloch radle, bekomme sie zu hören: „Jetzt haben Sie sich hier hoch gequält!“ Und muss dann immer sagen: „Nein, ich mach das voll gerne.“ Radeln macht Spaß, eine Botschaft, die in der Autostadt immer noch erstaunt. Und erst langsam durchsickert. München hat 60 Fahrradstraßen, Stuttgart hat deren zwei. Eine Szene ist durchaus typisch. Länge und Högerle hatten gleich zu Beginn ihrer Dreharbeiten vor anderthalb Jahren die perfekte Einstellung für ihren Film: Das Kaufhaus Breuninger ließ für eine Modeschau die Promis mit dutzenden S-Klasse-Mercedes ankarren, während des Feinstaubalarms und über die Eberhardstraße, eine Fahrradstraße. Den Soundtrack dazu singt Wolle Kriwanek: „I fahr Daimler, d’ Strohß gheert mir.“

Radeln macht klug

Der Kessel brummt, er rollt noch nicht. Doch viele arbeiten daran, dass das Surren vernehmlicher wird. „Es gibt hier viele Enthusiasten, die mit viel Leidenschaft für eine lebenswerte Stadt kämpfen“, sagt Länge. Etwa bei der Critical Mass. Das ist jene bewegte Demo, bei der immer am ersten Freitag des Monats bis zu 1400 Radler durch die Stadt fahren. „Wir behindern nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr!“, ist ihr Motto. Högerle arbeitet im Filmbüro Baden-Württemberg. Bei der Critical Mass lernte er den Mediengestalter Felix Länge kennen. Sie stellten fest: „Das sind genauso Verrückte wie wir.“ Und dachten sich: Da müssen wir einen Film darüber drehen. Högerle: „Das sind die unterschiedlichsten Menschen, was verbinde sie? Etwa Jan Lutz von Lastenrad Stuttgart, Alban Manz von der Critical Mass, Shimano-Händler Bernhard Lange oder Hotte Hoss von der Radtheke. So erkunden sie die Szene, 42 Minuten lang. Eine gute Zeitspanne. Haben doch die Wissenschaftler der Uni Leicester bei einer Studie mit einer halben Million Briten festgestellt, dass zu langes Sitzen Doof macht. Bei Menschen, die täglich zwei bis drei Stunden mit dem Auto fahren, sinke der Intelligenzquotient auffällig schnell. Regelmäßiges Radeln lässt einen also nicht nur zehn Jahre länger leben, wie der Mediziner Martin Halle von der Uni München festgestellt hat, es macht auch noch g’scheid.

Der Radweg braucht 31 Jahre

Vielleicht sollte sich auch mancher, der mit Radfahren gar nichts anfangen kann, den Film anschauen. Er könnte was lernen. So sagt Björn Geissler vom Radclub Stuttgart Fixed Gear den schönen Satz: „Größere Straßen gegen Staus zu bauen, ist wie breitere Hosen gegen Übergewicht zu kaufen!“ Und Anne Pelzer, die Lastenräder verkauft, hat beobachtet, dass es damit „wieder viel mehr Spaß macht, im Viertel einzukaufen“. Da sollten die Einzelhändler ihre Ohren spitzen. Wer das nicht glaubt, kann ja mal durch die Hauptstraßen fast aller Vororte flanieren und dann durch die Fahrradstraße Tübinger Straße. In den einen hat es viele Parkplätze und kaum Läden, in der anderen wenig Parkplätze, aber dafür viele Menschen und viele Läden und Cafés . In New York haben zwei Drittel der Einzelhändler dafür plädiert, dass der Times Square weiter den Fußgängern und Radlern gehört, die Autos nicht mehr zurückkehren. In Stuttgart? Da schlägt man gerne die Schlachten der Vergangenheit. Trio sangen „Da Da Da“, Romy Schneider starb – und in Stuttgart stritt man erstmals über einen Radweg quer durch die Stadt von Vaihingen nach Fellbach. 2013 war er fertig, nach 31 Jahren. Man braucht einen langen Atem, will man hier was bewegen. Christopher Tuma und Sebastian Meyer vom Basis Fahrradwarenladen lassen sich davon nicht entmutigen. „Wenn man viele Sachen macht, steht man in Stuttgart gleich vorne mit dran.“ Das koste viel Arbeit: „Aber so kann man Sachen auch mit gestalten.“ Schwaben sind hartnäckig. Vielleicht kommt ja eines Tages wieder eine Reporterin der ARD vorbei und stellt fest: Der Kessel rollt.