Am Stuttgarter Flughafen gibt es seit Kurzem Sonnenblumenbändchen für Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen. Herbert Baier lebt mit einer Spinobulbäre Muskelatrophie und findet das eine gute Idee.

Filderzeitung: Sandra Belschner (sbr)

Die Vorfreude auf den Urlaub ist groß, nur noch wenige Flugstunden bis die langersehnten Tage unter Palmen warten. Doch dann ist da die steile Treppe, die das Rollfeld von der Eingangstür des Flugzeugs trennt. Vor einem viele Menschen, hinter einem viele Menschen, alle wollen eilig zu ihrem Sitzplatz. Manche bleiben kurz stehen, schießen die ersten Erinnerungsfotos, andere drängeln. Das Gewusel ist groß. Mittendrin Herbert Baier, der in der Masse unsichtbar wird. Wie soll ich das schaffen? fragt er sich. Für ihn sind die Stufen, die die anderen Fluggäste nahe zu unbemerkt hinauflaufen, eine große Hürde. Der Leinfelder muss sich konzentrieren, all seine Kraft sammeln. Dann, langsam, Schritt für Schritt, schafft er den Weg in die Maschine. „Das ist keinem aufgefallen, dass ich nicht so kann, wie die anderen. Kein schönes Gefühl war das“, erzählt der 61-Jährige rückblickend.

 

Praktisch wäre es gewesen, in dieser Situation ein Merkmal zu haben, das die Behinderung von Herbert Baier für die Menschen um ihn herum sichtbar werden lässt, sagt er. Denn Situationen wie diese – Augenblicke, in denen die Rücksicht fehlte – hat der Leinfelder, dessen Alltag seit etwa 25 Jahren von einer Spinobulbäre Muskelatrophie, kurz Muskelschwunderkrankung, eingeschränkt wird, schon oft erlebt. Seine Erfahrungen zeigen: Menschen mit sogenannten nicht sichtbaren Behinderungen erfahren in ihrem Alltag noch weniger Hilfe als Menschen, die beispielsweise im Rollstuhl sitzen oder einen Blindenstock bei sich haben. Seit etwa fünf Jahren ist der 61-Jährige für längere Strecken selbst auf „den Rolli“ angewiesen – dann sei die Hilfsbereitschaft immer groß. Doch ohne solch „ein Merkmal“ ist das nicht immer so. „Für Außenstehende ist das schwierig zu verstehen, wenn man die Behinderung nicht direkt sieht“, sagt Baier. Wenn er dann mal unterwegs gefragt wurde ob er bei etwas helfen könne, etwas hochheben etwa, und dann sagte, er könne nicht, wurde er schon oft schief angeschaut, weil ihn die Leute möglicherweise für arrogant hielten. Viel erklären müsse man dann.

80 Prozent der Behinderungen sind nicht sichtbar

Laut WHO leben etwa 1,3 Milliarden Menschen weltweit mit einer Behinderung. 80 Prozent davon mit einer nicht sichtbaren. Zu ihnen zählen beispielsweise Demenzerkrankte, Schlaganfallpatienten, aber auch Menschen mit Autoimmun- oder psychischen Erkrankungen. Für die Betroffenen wurde 2016 das „Hidden Disabilities Sunflower Programm“ gestartet: Die Sonnenblume gilt als internationales Zeichen, um Mitmenschen darauf aufmerksam zu machen, dass man eine nicht sichtbare Beeinträchtigung hat, ohne gleichzeitig weitere Erklärungen und möglicherweise unangenehme Gespräche herbeizuführen.

Seit April ist der Stuttgarter Flughafen Mitglied des Programms und verteilt Sonnenblumenbändchen an Betroffene, um ihnen damit etwa den Check-in oder das Einsteigen ins Flugzeug zu erleichtern. Durch die Sonnenblume wird signalisiert, dass die Träger mehr Zeit oder andere Hilfe benötigen und die geschulten Teams können dann unterstützen. Die Geschäftsführerin des Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg, Jutta Pagel-Steidl, sieht das Programm mit gemischten Gefühlen. Ihrer Meinung nach müssten Mitarbeiter so geschult sein, dass sie mit allen Gästen achtsam umgehen, „ohne dabei einen Unterschied zu machen“. Sie merkt an, dass eine „Kennzeichnung mit Blick in die deutsche Geschichte immer etwas zweischneidig ist“.

„Zweischneidige Kennzeichnung“

„Man ist ja kein Aussätziger, nur weil man das Sonnenblumenbändchen um den Hals trägt“, sagt Herbert Baier. Er sei jedenfalls froh über das Angebot. Sagt aber auch, dass es an Bahnhöfen notwendiger wäre, dort seien viel mehr Menschen von den Herausforderungen beim Reisen mit Handicap betroffen. Als er von dem Band erfuhr, ist er direkt zum Flughafen gefahren, fast schon stolz trägt er nun die gelben Blumen um den Hals. Von einer Hemmschwelle kann der früher leidenschaftliche Skifahrer nicht berichten. Als seine Beine schwächer wurden, die Muskulatur nicht mehr mitmachte und er auf einen Rollstuhl umsteigen musste, war das schwer für ihn, „eine große Umstellung war das, ich war ein umtriebiger Mensch“. Doch habe man seine Behinderung und ihre Folgen akzeptiert, sei solch ein Zeichen kein großer Schritt mehr, „man weiß ja, dass man Hilfe braucht“. Auf Reisen soll es für den 61-Jährigen und seine Frau auch in Zukunft gehen. Vielleicht nach Holland ans Meer, vielleicht eine Kreuzfahrt. Das Sonnblumenbändchen wird auf jeden Fall mit dabei sein.

Mehr Unterstützung durch Sonnenblumen

Flughafen Stuttgart
Erhältlich ist das Umhängeband an der Fluggastinformation in Terminal 3 auf der Abflugebene, beim SAG Boarding Support und bei der Flughafenwache. Es wird kostenlos und ohne weitere Rückfragen zur Verfügung gestellt. Mittlerweile sind 200 Flughäfen weltweit Teil des Programms.

Sonnenblumenband
Das Band kann in jeder Situation getragen werden. Beispielsweise auch vorübergehend nach einer Operation. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Bestellung gibt es unter www.hdsunflower.com.