Wenn Brasiliens Nationalmannschaft am Donnerstag zum Eröffnungsspiel aufläuft, spielt sie unter einem Stadiondach, das in Degerloch erdacht wurde. Der Ingenieur Werner Sobek erzählt von seinen Erlebnissen im Gastgeberland der WM.

Stuttgart - Als Werner Sobek erstmals von den Unruhen in Brasilien hörte, herrschte am Zuckerhut noch politischer Frieden. Der Stuttgarter Ingenieur erinnert sich genau an jenen Langstreckenflug vor ein paar Jahren, als er einen Mitarbeiter eines Softwarekonzerns kennenlernte. Der Mann erzählte Sobek, dass sein Unternehmen im Auftrag brasilianischer Großstädte ungeheure Datenmengen sammle. Schon Jahre vor der WM befürchteten die Metropolen, dass es im Zuge der Weltmeisterschaft zu Unruhen kommen könnte.

 

So erfuhr Werner Sobek, lange bevor die Ausspähaktionen der NSA weltweit ein beherrschendes Thema wurde, von den Sorgen des südamerikanischen Landes und von der Datensammelwut. Seit dem Februar 2011 macht auch Werner Sobek Geschäfte mit Brasilien – aber wenn er dabei Daten sammelt, dann sind diese nur technischer und nicht menschlicher Natur. Sobek und seine Mitarbeiter setzen der WM die Krone auf: Sie haben das Dach der Arena de São Paulo entworfen. Am Donnerstag laufen dort die Mannschaften Brasiliens und Kroatiens zum Eröffnungsspiel auf. In mehr als 9700 Kilometer Entfernung wird sich Sobek, 61, das Spiel und „sein“ Stadion im Fernsehen ansehen.

Ein Unglück überschattete die Bauarbeiten

Hinter Sobek liegt ein langer Weg. Er wurde nicht leichter, als ein Unglück die Bauarbeiten überschattete. Alles begann damit, dass eine Gruppe junger Architekten aus Rio de Janeiro den Wettbewerb für den Bau der WM-Arena in São Paulo gewann. Ihr Siegerentwurf sah ein extrem dünnes Dach vor. „Daraufhin sagten Ingenieure, dass das Stadion in dieser Form nicht zu bauen sei“, erinnert sich Werner Sobek. In diesem Moment kam das Knowhow aus Stuttgart ins Spiel. Sobek arbeitet seit dem Beginn seiner Karriere als Dachdecker unter den Architekten: Er war am Rothenbaum-Stadion in Hamburg beteiligt, er plante Stadien in St. Petersburg, Turin und Bagdad, von Sobek stammen Konzepte für den Flughafen von Bangkok.

In Brasilien konnte sich Sobek sicher sein, dass seine Bautätigkeit vom früheren Präsidenten des Landes genau unter die Lupe genommen wird: Lula da Silva, der Vorgänger der jetzigen Präsidentin Dilma Rousseff, hatte sich persönlich für das Stadion starkgemacht. Nach der WM soll es die Heimspielstätte des Clubs Corinthians São Paulo werden. Lula, der Sozialdemokrat, ist ein großer Fan des Arbeiterklubs. Für das WM-Stadion gab es neben dem Dach made in Stuttgart noch eine weitere Herausforderung beim Bau: Die Tribünen an der Stirnseite des Stadions werden nur während der Weltmeisterschaft dort stehen. „Sie sind nur gemietet, das folgt dem gleichen Prinzip wie bei den Tribünen, die am französischen Nationalfeiertag auf dem Champs- Élysées stehen“ erzählt Sobek.

Nach der Weltmeisterschaft werden die Tribünen abgebaut, „dann sieht man aus dem Stadion auf der einen Seite in die Stadt hinein und auf der anderen Seite in die Landschaft hinaus“.

Die Zusammenarbeit lief problemlos

Im Laufe der Jahre 2012 und 2013 nahm das Dach Gestalt an – es überspannt mit einer Gesamtabmessung von 200 mal 245 Metern die Zuschauerränge und lässt über dem Spielfeld eine Öffnung frei. Überzogen ist es mit einer hellen, textilen Außenhaut. Die Zusammenarbeit mit den brasilianischen Architekten und der dortigen Baufirma lief problemlos: „Zwischenmenschlich war es sehr angenehm, und das Baustellenkonzept war perfekt, dort lag keine Schraube oder kein Nagel, wo er nicht hingehört.“

In mehreren brasilianischen Städten Favelas angesehen

Dann kam der 27. November 2013. Um 22 Uhr piepste Werner Sobeks Handy. Die Unglücksbotschaft kam per SMS: Das Dach des Stadions war beinahe fertig, als ein Kran auf der Baustelle umstürzte, an dessen Haken ein 460 Tonnen schweres Gewicht hing. Der Kran stürzte auf das Dach, zwei Bauarbeiter kamen ums Leben. „Das hat mich sehr betroffen gemacht“, sagt Sobek. Die Tragödie warf den Stadionbau zeitlich weit zurück: Zum Eröffnungsspiel ist die Arena zwar betriebsbereit, doch ein Teil der Dachverkleidung wurde aufgrund des Unfalls nicht rechtzeitig fertig. Ungeachtet dessen meint Sobek eine „positive Grundstimmung“ in der Bevölkerung São Paulos auszumachen. „Dort haben sich die Proteste in Grenzen gehalten, weil das Wohlstandsniveau relativ hoch ist.“

In Rio de Janeiro ist das anders. Werner Sobek hat sich in mehreren brasilianischen Städten Favelas angesehen. Oft ließ er sich die Armutsviertel von ortskundigen Studenten zeigen. Er wollte selbst sehen, wie die Menschen dort leben, wo sie einkaufen, was das Leben in den Favelas ausmacht. „Es hat mich beeindruckt, wie eng dort alles miteinander verwoben ist und wie die Menschen aufeinander aufpassen“, erzählt er. „Gleichzeitig habe ich an vielen Stellen katastrophale hygienische Bedingungen gesehen, auch die Bildung wird vernachlässigt. Dass daraus eine große Unzufriedenheit entsteht, ist doch vollkommen klar.“

Angst vor Einbrechern

Sobek verlässt bei seinen Arbeiten im Ausland oft jenes gut situierte Umfeld aus teuren Hotels, Besprechungszimmern und Kongresscentern. In der Wirtschaftsmetropole São Paulo hat er beobachtet, wie sich die Reichen in ihren Häusern aus Angst vor Einbrechern verbarrikadieren: „Manche Gebäude sind von zwei meterhohen Zäunen umgeben, wer hineinkommen will, muss einen privaten Sicherheitsdienst passieren. Oft wacht zwischen den Zäunen auch noch ein Schäferhund.“

In diesem Spannungsfeld haben sich die Städte auf Unruhen während der WM vorbereitet. Was Werner Sobek von dem Mann aus der Softwarebranche erfahren hat, wirft ein Schlaglicht auf das Großereignis. „Aufgrund der gesammelten Daten können die Behörden vorhersehen, wo sich Proteste ereignen könnten.“ Passgenau können die Städte darauf reagieren, Ampeln auf Rot stellen, Züge ausfallen lassen und Polizisten in Marsch setzen. Werner Sobek interessiert sich nicht nur für Brot und Spiele – der Dachdecker von São Paulo blickt in Brasilien hinter die Kulissen.