Eine Mutter wird plötzlich krank, Eltern trennen sich, Kinder schwänzen die Schule: Das Jugendamt will Familien in verschiedenen Krisensituationen helfen, sich selbst zu helfen. Den Familienrat organisieren Bürger.
Stuttgart - Die Mutter von drei Kindern wird plötzlich schwer krank, Eltern trennen sich und streiten sich um ihre kleine Tochter, der 16-jährige Sohn klaut und schwänzt die Schule. Es gibt viele Krisen, in denen Familien stecken können. Mit einem ungewöhnlichen Angebot versucht das Jugendamt den Betroffenen zu helfen, selbst zu Lösungen zu kommen: Es beruft Familienräte ein, die von Bürgern organisiert werden. Eltern, Großeltern, Kinder, Tanten, Onkel, Freunde und weitere Vertraute kommen im Idealfall zusammen, um einen Plan zu entwickeln.
„Es geht um eine gute Lösung für das Kind, das steht im Mittelpunkt und nicht das Vergangene“, erklärt Heike Hör vom Jugendamt, die das Angebot koordiniert. Je mehr Menschen dabei seien, desto mehr Ideen würden auch entwickelt. Der selbstverantwortliche Ansatz ist so erfolgreich, dass die Stadt den Familienrat nach einer vierjährigen Pilotphase im April ins Regelangebot überführt hat. Rund 140 Familienräte sind abgehalten worden. Einer früheren Evaluation zufolge beurteilten die Fachkräfte des Jugendamts den Familienrat in 90 Prozent der Fälle positiv. Auch 80 Prozent der Beteiligten würden ihn weiter empfehlen.
Jede Familie in der Krise kann sich helfen lassen
Das Angebot steht allen Familien offen. Jeder könne es in Anspruch nehmen, sagt Heike Hör, die Sozialarbeiterin und Supervisorin ist. Die Mehrheit der bisherigen Teilnehmer sei aber auf irgendeine Art bereits im System gewesen. So wie in dem Fall einer Familie, die völlig zerstritten war. Das Kind lebte nach der Scheidung beim wohlsituierten Vater. Nicht nur die Eltern waren zerstritten, sondern auch der Vater und die Großmutter mütterlicherseits. Sie hatte falsche Gerüchte über ihn verbreitet, deshalb verhinderte der Mann, dass die Oma und auch die Mutter das Kind sahen. Immer wieder trafen sich alle vor Gericht. Schließlich gelang es nach einer Vorbereitungszeit von einem dreiviertel Jahr, was laut Heike Hör ungewöhnlich lang ist, einen Familienrat einzuberufen. Der Vater des Vaters reiste extra aus dem Ausland an – und mit seiner Hilfe gelang der Durchbruch. Die Erwachsenen entwickelten gemeinsam einen Lösungsvorschlag. Ein halbes Jahr nach dem Familienrat habe sich die Mutter noch einmal gemeldet, erzählt Heike Hör. „Wir sind dadurch ins Gespräch gekommen“, habe diese ihr noch einmal gedankt. „Die meisten Menschen möchten für ihr Kind etwas Gutes“, sagt die Jugendamtsmitarbeiterin.
Familienräte werden sogar auch dann einberufen, wenn der Kinderschutz gefährdet ist. In dem Fall muss der Vorschlag, den die Familie entwickelt, vom Jugendamt vorgegebene Mindestanforderungen erfüllen: Im Fall einer psychisch kranken Mutter gab die Sozialarbeiterin zum Beispiel vor, dass die Mutter nie alleine mit dem Kind sein durfte. Im Familienrat haben die Mitglieder dann die gesamte Woche aufgeteilt, wie sie die Betreuung abdecken, wer wann bei Mutter und Kind ist. Die Sozialarbeiterin stimmte dem Plan zu, das Kind habe weiter in der Familie leben können und musste nicht in eine Pflegefamilie.
Bürgerkoordinatoren sollen neutral bleiben
„Zuerst gehen viele angespannt in die Situation, aber am Ende sind sie unheimlich stolz, etwas entwickelt zu haben“, berichtet Annette Reinert, eine der 40 Bürgerkoordinatorinnen, die besonders lange dabei ist. Zwölf Familienräte hat sie seit 2010 vorbereitet – zehn davon sind zustande gekommen. „Bei den zehn hat das wunderbar funktioniert – mal ist der Erfolg größer, mal kleiner, aber er ist immer da“, sagt die 44-Jährige, die selbst Mutter von drei eigenen Kindern und einer Stieftochter ist. Sie ist begeistert von der Idee, Familien zuzutrauen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Sie versucht, immer neutral zu bleiben und keine Ratschläge zu geben. Wie das geht und wie man die richtigen Fragen stellt, hat sie im Training gelernt.
Denn manchmal sträuben sich Familienmitglieder, an dem Rat teilzunehmen. Annette Reinert erinnert sich an ein Mädchen, das schon seit einiger Zeit auf der Straße lebte. Es sei schwierig gewesen, an die Jugendliche heranzukommen. Sie hat sie in der Arnulf-Klett-Passage besucht, sich mit ihr auf eine Treppe gesetzt und vom Familienrat erzählt, der sich wegen ihr treffen würde. Ob sie nicht dabei sein wolle, wenn über sie gesprochen werde? Auf gar keinen Fall, habe die Jugendliche geantwortet, sie sei an dem Tag in Berlin, das sei ihr alles egal. Annette Reinert hat nicht enttäuscht reagiert. „Dann schicke doch jemanden vorbei, damit Du Dich trotzdem einbringen kannst, Du hast schließlich auch Wünsche“, hat sie dem Mädchen vorgeschlagen. Letztlich sei die Jugendliche doch erschienen. Und sie hat es immerhin drei Stunden lang ausgehalten. Konstruktive Vorschläge statt Belehrungen – mit dieser Taktik ist Annette Reinert, die hauptberuflich Personalsachbearbeiterin ist, sehr gut gefahren. Auch sie selbst profitiert von dem Ehrenamt. Denn man lerne auch mit eigenen Problemen anders umzugehen.
Geschichte zur Entstehung
Das Konzept für den Familienrat kommt ursprünglich aus Neuseeland. Dort haben Familien sogar ein Recht darauf, gehört zu werden. In Stuttgart wurde die Idee 1998 erstmals diskutiert. Heike Hör hat im Rahmen eines Sabbatjahres 2006 unter anderem in Neuseeland hospitiert, um mehr darüber zu lernen. Außerdem knüpfte sie Kontakte zur Eigenkrachtzentrale (der Begriff kommt von eigene Kraft) in den Niederlanden. Auf deren Modell baut das Stuttgarter auf.
40 Bürgerkoordinatoren hat das Jugendamt bisher ausgebildet, darunter einen Landwirtschaftsmeister, eine Juristin, IT-Experten und viele Mitbürger mit Migrationshintergrund. 16 Sprachen sind abgedeckt, darunter Türkisch, Kroatisch, Griechisch, Tamil und Ewondo. Weitere Ehrenamtliche sind immer willkommen, Interessierte können sich an Heike Hör unter E-Mail heike.hoer@stuttgart.de wenden. Der Aufwand wird mit 30,68 Euro die Stunde vergütet.
Auf der Seite www.stuttgart.de/familienrat findet sich ein Film über das Angebot. vv