Bei seiner Gründung 1945 war das 17-köpfige Stuttgarter Kammerorchester das erste Ensemble seiner Art. Im Jahr seines 75. Geburtstages präsentiert es sich rundum verjüngt – als kreative, energetische Streichertruppe.

Stuttgart - Der Anfang war mühsam: ein Weg heraus aus Trümmern. „In zerrissener Kleidung“, schrieb die Stuttgarter Zeitung rückblickend 1970, habe sich der damals 30-jährige gebürtige Stuttgarter Karl Münchinger 1945 aus einem amerikanischen Gefangenenlager bei Mannheim zu Fuß auf den Weg in seine Heimatstadt gemacht, habe „die Ruinenlandschaft nach bekannten Musikern abgesucht“. Partituren wurden gefunden, Einzelstimmen abgeschrieben. Was folgte, war eine typische Nachkriegs-Erfolgsgeschichte. Beim ersten Konzert des 17-köpfigen Stuttgarter Kammerorchesters (SKO) am 18. September im Stuttgarter Furtbachhaus regnete es durch die Decke. Die nächsten Auftritte erfolgten im Austausch für Bezugsscheine, Lebensmittelmarken oder Heizmaterial. Aber schon 1947 hatte das Stuttgarter Kammerorchester einen Produktionsvertrag mit dem Süddeutschen Rundfunk, aus dem Musikerhaufen wurde ein eingetragener Verein.

 

Heute gilt das Ensemble als weltweit ältestes Kammerorchester mit einer ununterbrochenen Geschichte – und noch immer finden sich in seinem Streicherklang Spuren aus der Gründerzeit. „Auf der tiefsten Ebene“, formuliert es Thomas Zehetmair, der aktuelle Chefdirigent des SKO, „ist Musik nicht planbar, sie lebt von der höchsten Sensibilisierung aller Beteiligten – das ist eine Qualität, die das Stuttgarter Kammerorchester schon seit Karl Münchinger auszeichnet.“

Ein kleines Ensemble als Gegenentwurf zur nachromantischen Riesenbesetzung

Das Spielideal, 1945 noch neu, war ein Gegenentwurf zur nachromantischen Riesenbesetzung mit deutlich entschlacktem, hellem, durchsichtigem Klang, gepaart mit großer Präzision und Ernsthaftigkeit. „Da muss“, so ein Kritiker der „Stuttgarter Nachrichten“ anlässlich des 30-Jahr-Jubiläums 1975, „in den Musikern eine Flamme aus unerschöpflichem Vorrat brennen; ein Licht, das leeren Wohlklang zerschmort, aber Linearitäten beleuchtet und Formen wachsen lässt.“ „Das Stuttgarter Kammerorchester“, so sein Kollege von der „Stuttgarter Zeitung“, „spielt Bach mit intensivem Espressivo ohne gefühlige Romantizismen, mit Kantabilität ohne Glätte, die raschen Sätze mit nerviger Straffheit ohne starre Motorik, wobei in den Tanzsätzen eine gewisse Erdhaftigkeit mit Eleganz verbunden wird, innere Wärme mit äußerem Glanz.“ Was die genannte Wärme betrifft: Für sie sorgt die verstärkte klangliche Mitte des SKO, in dem zwischen fünf ersten und vier zweiten Geigen auf der einen Seite und drei Celli plus Kontrabass auf der anderen vier Bratschen spielen.

Bis Mitte der 1970er Jahre waren Durchsichtigkeit und Leichtigkeit Alleinstellungsmerkmale des Ensembles. Zahlreiche neue Klangkörper eiferten den Stuttgartern nach. In den 50er Jahren wurde das SKO zu einer Weltmarke – und zu einem der ersten deutschen Kulturbotschafter nach dem zweiten Weltkrieg. Damals begann man, um die Welt zu touren: in den Iran, nach Israel, Kanada, China und Japan. Spätestens mit der Gründung des Musikfestivals von Colmar 1979 wurde Frankreich zum zweiten Vaterland des Ensembles. Die intensive Reisetradition hält bis heute an – und erlaubt dem Orchester, „bei den Stuttgarter Konzerten künstlerisch unabhängiger zu agieren“.

Das SKO will kein Spezialensemble sein

So sagt es Markus Korselt, der 45-jährige Cellist und Kulturmanager, der 2017 als geschäftsführender und künstlerischer Intendant zum Kammerorchester kam. Er hat sein Ohr bei den Musikern, was auch damit zusammenhängen mag, dass er in früheren Zeiten hier schon mal als Cellist ausgeholfen hat. Und er hat große Lust am Ausprobieren. Seit Korselts Amtsantritt ist das Ensemble präsenter in der Stadt, hat seine Auslandsauftritte ausgeweitet, experimentiert mit neuen Präsentationsformen und Räumlichkeiten – und exportiert seine Education-Arbeit gern auch mal ins Ausland. So haben die Musiker 2018 bei einem Konzert in Kathmandu gemeinsam mit Schülern einer Musikschule die Bearbeitung eines Bach-Chorals und eines nepalesischen Stücks aufgeführt. Auch die Ersteinspielung (!) der nepalesischen Nationalhymne stammt vom SKO.

Ein Spezialensemble wollte und will das Stuttgarter Kammerorchester nicht sein – dass sich das Repertoire unter seinem Gründungsdirigenten auf Barock und Klassik fokussierte, führte 1987 mit zum Bruch mit Münchinger. Heute spielen die Musiker Stücke aus der Zeit vom 18. bis 21. Jahrhundert, und für sie zählt allein konstant hohe Qualität. Nach dem abgeschlossenen Generationswechsel (ein Musiker der Ära Münchinger ist immerhin noch dabei, der Altersdurchschnitt im Ensemble liegt bei 38 Jahren) sind die Voraussetzungen dafür gut: „Wir haben“, formuliert es Markus Korselt, „heute einen Stall voller Rennpferde.“ Denen gibt der Intendant bewusst mehr Eigenverantwortung, bindet sie ein, lässt sie auch mal als Solisten auftreten.

Am Ende der Ära Münchinger stimmte die Chemie im Orchester nicht mehr

Am Ende der Ära Münchinger war das SKO von Konkurrenten links überholt worden, die Chemie stimmte nicht mehr, einen Nachfolger hatte der Gründungsdirigent nie aufbauen wollen. Es gab wechselhafte Jahre unter den Chefdirigenten Martin Sieghart, Dennis Russell Davies (der Werke aktueller US-amerikanischer und nordosteuropäischer Komponisten programmierte, außerdem die Haydn-Sinfonien komplett aufführte und auf CD einspielte) und Michael Hofstetter (der sich der historischen Aufführungspraxis annähern wollte). Erst Matthias Foremny gelang ab 2013 eine klangliche und ästhetische Homogenisierung.

Seit 2019 ist der Geiger und Dirigent Thomas Zehetmair (58) Chefdirigent. Er ist neugierig, hat klare Vorstellungen, mag alte Musik ebenso wie Zeitgenössisches. „Er energetisiert das Orchester“, so sagt es Markus Korselt.

Das Kammerorchester als vierfaches Streichquartett

Für den Intendanten steht der kammermusikalische Aspekt beim Kammerorchester im Zentrum: das intime, konzentrierte Miteinander. Im Prinzip, so Korselt, sei das Kammerorchester ja nichts anderes als ein vierfaches Streichquartett – deshalb haben die Musiker auch „unzeitgemäße“ unbefristete Verträge, „denn im Streichquartett tauscht man die Mitglieder ja auch nicht einfach so aus“. Im Übrigen sei das Leben in der Mitte zwischen großem Orchester und Kammermusik ganz wunderbar: „Das“, sagt der Intendant, „ist doch gerade unsere Chance: dass wir in beide Richtungen atmen können.“

Info: Am 18. September 2020 um 20 Uhr spielt das SKO in Stuttgart unter der Leitung von Thomas Zehetmair nochmals das Programm seines Gründungskonzertes (Werke von Händel, Schein, Vivaldi). Das Konzert in den Wagenhallen ist bereits ausverkauft.