Tiefblaue Kickersfans haben ein Geschichtsprojekt für ihren Verein in Stuttgart-Degerloch ins Rollen gebracht. Besonders der jüdische Schiedsrichter, der zum Opfer der Nazis wurde, war bei der Recherche ständiger Begleiter.

Degerloch - Eingestaubte Spielchroniken und vergilbte Vereinszeitungen – so sah der Grundstock aus, mit dem sich Frank Baum und seine neun Mitstreiter im Herbst 2017 erstmals auf historische Spurensuche begaben. Aus dem unberührten Archivmaterial wurde innerhalb kürzester Zeit ein mehrfach prämiertes Fanprojekt – angestiftet von tiefblauen Kickers-Fans wie dem Leinfelder Frank Baum und seinem 16-jährigen Sohn Oskar Gscheidle.

 

„Jüdische Ballade“ als eindrückliche Quelle

Unter dem Titel „Heimat Kickers“ hatte Baum im Jahr 2017 für eine historische Aufarbeitung der Vereinsgeschichte geworben. Mit Erfolg: Nur wenig später nahm sich das Fanprojekt des Degerlocher Traditionsvereins dem Wunsch an. Im Mittelpunkt des Projekts, das Frank Baum als Projektleiter in Teilzeit begleitet, stehen aber nicht etwa die glorreichen Bundesligazeiten auf der Waldau. „Wir möchten die Zeit von der Vereinsgründung im Jahr 1899 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs beleuchten“, sagt der Initiator. Schwierige und zugleich prägende Zeiten für den Sportverein stehen für die Hobby-Historiker also eher im Mittelpunkt als die Glanzzeiten in der jungen Bundesrepublik.

Einen Namen aus der Flut zu reißen selt’ner Fang! man darf ihn nicht verlieren. Keine Straße wird man nach ihm nennen, keines Denkmals Sockel wird er zieren.

So beginnt ein Gedicht, das dem Team um Frank Baum als besonders eindrückliche Quelle diente. Die „Jüdische Ballade“ ist wohl auf den schwäbischen Schriftsteller Leopold Marx zurückzuführen. In seinem lyrischen Werk besingt er einen Tiefblauen von der Waldau, den Frank Baum gerne als exemplarisch für die Verfehlungen des Vereins im Dritten Reich bezeichnet.

(...)Und will einer singen von Heldentum, er kommt nicht um Julius Baumann herum.

Für Projektleiter Frank Baum wurde der ehemalige Schiedsrichter zum ständigen Begleiter bei den Recherchen, Sohn Oskar sieht in dem NS-Opfer sogar eine „besonders beeindruckende Persönlichkeit“. Tatsächlich scheint Baumann ein Ausnahmefund zu sein – trotz der oft dünnen Quellenlage ließen sich die Lebensstationen des gläubigen Juden und Vereinsmitglieds beinahe komplett nachvollziehen.

Baumann muss den Verein verlassen

Baumann wird 1898 in Stuttgart geboren, engagiert sich neben seinem Kaufmannsdasein als Schiedsrichter bei den Stuttgarter Kickers. Doch bald ist er auf dem Rasen nicht mehr gern gesehen: Mit der „Stuttgarter Erklärung“ der süddeutschen Fußballklubs werden Juden ab 1933 aus dem Vereinsleben verdrängt. Die „Hand des Führers“ greift bis auf die Waldau hinauf, wo sie das Schicksal Baumanns packt. Ob die Kickers treibende Kraft der antisemitischen Regelung waren, sei nicht mehr zu rekonstruieren, sagt Baum. „Zumindest aber haben sie es hingenommen und sich nicht gewehrt. Und das, obwohl die Stuttgarter Kickers viele jüdische Mitglieder hatten“, ergänzt er.

Nach 1933 ist das freilich anders. Der einst so tatkräftige Julius Baumann muss den Verein verlassen. Fortan engagiert er sich nur noch in jüdischen Kreisen, wie das Fanprojekt herausfinden konnte. In den dunklen Zeiten des Nationalsozialismus veranstaltet er Kinderferienlager, als den Juden mit einem Theaterverbot eine neue Schikane auferlegt wird, baut er kurzerhand ein eigenes Varieté auf. Trotz eines Einreisevisums nach Großbritannien bleibt Baumann seiner schwäbischen Heimat treu, bis ihn die Gestapo schließlich 1942 in Haft nimmt.

Er kam in ein Lager nach Österreich, und dort hat eine Kugel allsogleich in seinem Schädel sich Platz gesucht ein Schuß von hinten, das hieß „auf der Flucht“

So endet die Geschichte des Julius Baumann in der „Jüdischen Ballade“. Wiederentdeckt wurde sie erst durch das Geschichtsprojekt der Stuttgarter Kickers. Sogar die Großnichte von Julius Baumann habe man im Rahmen des Projekts ausfindig machen können, erzählt Baum nicht ohne Stolz. Die Neuseeländerin war mittlerweile zweimal in Stuttgart zu Gast und zählt seitdem zum Unterstützerkreis von „Heimat Kickers“.

Das Geschichtsprojekt sieht seinen Dienst an der Aufarbeitung indes noch lange nicht getan. Auch in den kommenden Monaten möchten Frank Baum, Oskar Gscheidle und die anderen Interessierten das Wühlen in den Archiven nicht sein lassen. Das Aufkeimen rechtsextremer Tendenzen in der Gesellschaft würde ihnen die Wichtigkeit ihrer Arbeit immer wieder vor Augen führen, sagt Baum. Das Ziel der Kickers-Begeisterten ist dabei klar abgesteckt: „Wir möchten für die Gegenwart im Verein, ja im gesamten Fußball, relevant bleiben.“