Im vergangenen Jahr sind in Stuttgart deutlich mehr Christen aus der Kirche ausgetreten als sonst. Der Grund ist eine Änderung bei der Kapitalertragssteuer. Diese Erfahrung ist nicht neu.

Stuttgart - Die großen Kirchen haben im vergangenen Jahr wieder mehr Mitglieder verloren. Hintergrund ist eine steuerliche Änderung. Seit diesem Jahr wird die Kirchensteuer auf Kapitalerträge von den Banken automatisch an die Finanzämter abgeführt. Die Banken haben bereits im vergangenen Jahr über die Neuerung informiert, die Kirchen selbst ihre Mitglieder allerdings nicht. Der katholische Stadtdekan Christian Hermes sieht dies als klares Versäumnis an, mit dem die Kirchen ihren Teil dazu beigetragen haben, dass sich so viele Menschen abgewandt haben, „Mich ärgert es, dass die Kirchen mit ihren großen Apparaten es nicht geschafft haben, rechtzeitig Informationsbroschüren an die Pfarrämter zu verschicken.“ Zumal die Gemeinden zu jeder Spendenaktion dicke Infopakete zugesandt bekämen.

 

Der Stuttgarter Stadtdekan hatte bereits zu Beginn des vergangenen Jahres bei der Diözese Rottenburg-Stuttgart einen verständlichen steuerrechtlichen Informationsbrief angemahnt, aber kein Gehör gefunden. Inzwischen räumt auch der Rottenburger Generalvikar Clemens Stroppel ein, das Feld den Banken überlassen zu haben. „Zumindest ein Teil der Kirchenaustritte wäre unter Umständen durch Kommunikation zu verhindern gewesen. Denn dass das neue Einzugsverfahren gerechter ist, weil die Veranlagung nicht mehr so leicht aus Unwissenheit oder Absicht umgangen werden wird, begrüßen viele Kirchenmitglieder.“

Mehr Kirchenaustritte bei Steuererhöhungen sind üblich

Nach Angaben des statistischen Amtes der Stadt hat die katholische Kirche in Stuttgart im vergangenen Jahr 25 Prozent mehr Mitglieder verloren als noch 2013, die katholische Kirche selbst will die Zahlen für 2014 erst im Juni veröffentlichen. Der evangelischen Kirche haben im vergangenen Jahr insgesamt 2481 Menschen den Rücken gekehrt, das sind 38 Prozent mehr als noch im Jahr zuvor. „Das ist schmerzhaft“, sagt der evangelische Stadtdekan Sören Schwesig. Auch er spricht im Zusammenhang mit der Kapitalertragssteuer von einer „verunglückten Kommunikation“. Schwesig ist überzeugt, dass gut präsentierte Modellrechnungen zumindest den einen oder anderen von einem Austritt abgehalten hätten. Christian Hermes rechnet vor: „Der aktuelle Zins für ein Sparbuch bei der BW-Bank liegt bei 0,5 Prozent, da ist dann schon ein Anlagekapital von 200 000 Euro erforderlich, um tausend Euro Zinsen zu erwirtschaften und 3,90 Euro Kirchensteuer zu bezahlen.“ Hermes fragt sich: „Tritt man deshalb aus der Kirche aus?“

Dass die Kirchen im Vorfeld nicht aktiv waren, ist in der Tat verwunderlich. „Im langjährigen Verlauf zeigt sich, dass vor allem dann viele Menschen aus der Kirche austreten, wenn die Steuern erhöht werden oder Änderungen hinsichtlich der Kirchensteuer stattfinden“, stellt Ansgar Schmitz-Veltin vom statistischen Amt der Stadt fest. Die Menschen seien stark sensibilisiert, wenn es um Steuern gehe. Deutschlandweit betrachtet wurde der erste Höchstwert der Kirchenaustritte Ende der 1960er Jahre erreicht, also unmittelbar nach Einführung der Mehrwertsteuer zum 1. Januar 1968. Besonders hoch fiel die Zahl der Austritte Anfang der 1990er Jahre aus, als das westdeutsche Kirchensteuermodell durch den Einigungsvertrag auf die neuen Länder übertragen wurde und hier erstmals Kirchensteuer erhoben wurde.