Ein 54-Jähriger aus Schorndorf steht in Stuttgart vor Gericht. Der Vorwurf: versuchter Totschlag. Doch die Tatnacht bleibt ein Rätsel – für Täter und Opfer. Was führte zu dieser Eskalation?
Es sind nur winzige Bruchstücke aus seinem bisherigen Leben, die der Mann mit der Brille und dem grauen Vollbart auf der Anklagebank des Stuttgarter Landgerichts den Richtern der 1. Schwurgerichtskammer offen legt. Doch schon diese wenigen Ausschnitte reichen, um zu erkennen, dass der 54-Jährige kein einfaches Leben hatte. Der Vater war als Fernfahrer viel unterwegs, die Mutter zu Hause mit drei Söhnen überfordert. Schon als Grundschüler kam er auf ein Internat, während seiner Zeit auf der Hauptschule lebte er in verschiedenen Jugenddörfern, welche die Jugendämter für ihn organisierten. „Ich war kein einfaches Kind“, sagte der Angeklagte rückblickend mit rauer Stimme.
Keine Stabilität im beruflichen und sozialen Leben
Einen Schulabschluss schaffte er nicht, „weil mir alles um mich rum egal war“, führte der 54-Jährige weiter aus. Einige Jahre arbeitete er als Bauhelfer, selten hielt er es bei einer Firma länger als ein Jahr aus. Fünf Jahre legte er sich anschließend „auf die faule Haut“, bezog Geld vom Jobcenter. Ein Jahr war er dann noch mal für eine Gerüstbaufirma tätig, ehe er in den letzten rund 20 Jahren keiner geregelten Arbeit mehr nachging.
Der Hauptgrund dafür ist wohl sein Alkoholkonsum. „Ich habe mit 13 Jahren angefangen zu trinken“, erzählte er den Richtern. Mit dem Alkohol habe er seine Probleme betäubt, die zu lösen er nicht im Stande gewesen sei. So könne er bis heute nicht über einen sexuellen Missbrauch während seiner Heimzeit sprechen. „Ich habe meine Probleme hinter Alkohol versteckt“, räumt er offen ein. Auch mit Marihuana und Kokain hatte er Kontakt, Ersteres konsumierte er bis zu seiner Haft. Besonders schlimm sei das vergangene Jahr für ihn gewesen, es seien mit seinem Vater, seiner Tante und dem besten Kumpel seines Sohnes drei Menschen gestorben, die ihm sehr nahe standen.
Ein dramatischer Wendepunkt in der Tatnacht
Seit 2023 arbeitete er als Aushilfe in einer Cocktail-Bar in Schorndorf – „nicht das beste Umfeld für einen Alkoholiker“, wie die Vorsitzende Richterin Monika Lamberti anmerkte. Dort lernte er einen 45-jährigen Kollegen kennen, zu dem sich eine Freundschaft entwickelte, und der nun in diesem Prozess um versuchten Totschlag eine Rolle spielt.
Laut Anklage verließen beide in der Nacht zum 31. Juli vergangenen Jahres die Cocktail-Bar gegen 1.30 Uhr gemeinsam, um noch kurz zur Wohnung des 54-Jährigen zu gehen. Wenige Meter davor soll es zu einem heftigen Wortgefecht zwischen den beiden Männern gekommen sein, woraufhin der Angeklagte seinem Begleiter einen Faustschlag ins Gesicht versetzte, so dass dieser zwischen zwei Autos zu Boden ging. Anschließend habe er ihm mit dem Fuß auf den Kopf getreten und dabei tödliche Verletzungen in Kauf genommen. Der 45-Jährige erlitt einen Schädelbruch und Gehirnblutungen und schwebte in Lebensgefahr.
An die Details der Tat konnte sich vor Gericht keiner der beiden konkret erinnern. „Ich weiß noch, dass er mich als Hurensohn beschimpft und eine Kollegin, die ich sehr mag, beleidigt hat. Dann bin ich ausgetickt“, erklärte der Angeklagte. Er wisse noch, dass er seinem Freund einen Faustschlag verpasst habe und dieser umgefallen sei. Dann habe er einen Filmriss gehabt. Als er später begriffen habe, was er angerichtet hatte, habe er es mit der Angst zu tun gehabt. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich zu so etwas fähig bin“, meinte der 54-Jährige mit gesenktem Kopf. Nach seinen Angaben hatte er seit dem frühen Abend 15 Pils, fünf Jacky Apple und zehn Schnäpse getrunken.
Filmriss nach dem Verlassen der Bar
Noch weniger Erinnerung an diese Nacht zeigte der 45-Jährige im Zeugenstand. Er wisse noch, dass sie zusammen die Bar verlassen hätten, dann habe er einen Filmriss. Erst im Krankenhaus, wo bei ihm ein Blutalkoholwert von 2,3 Promille festgestellt wurde, sei er wieder zu sich gekommen. Acht Tage habe er dort bleiben müssen, zweieinhalb davon auf der Intensivstation.
Erstaunlich: Die Freundschaft der beiden Männer hat die Tat nicht beeinträchtigt. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen, ich betrachte dich immer noch als Freund“, sagte der Angeklagte, bei dem 19 Vorstrafen im Register stehen, in Richtung des Opfers. Und dieser erwiderte: „Ich habe mein Herz dir gegenüber nie verschlossen“.