Stuttgarter lebt mit FASD Alkoholgeschädigt geboren – Peter rastet aus, ohne es zu wollen

Peter trägt oft Kopfhörer, um sich abzuschirmen. Foto: KI/Midjourney/Montage: Ruckaberle

Ein Stuttgarter berichtet über sein Leben mit der fetalen Alkoholspektrumstörung FASD. Wenn er gestresst ist, stößt er seine Mitmenschen vor den Kopf, dabei sehnt er sich nach Liebe.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Peter hat immer wieder den gleichen Traum: Seine Mutter beugt sich über ihn. Ihr Atem riecht nach Alkohol. Erst schlägt sie ihn, dann ritzt sie ihm in den linken Unterarm. An dieser Stelle wacht Peter auf. Schwer atmend. Mit Todesangst.

 

Der 31-jährige Stuttgarter krempelt das Hemd hoch. Eine lange Narbe kommt zum Vorschein. Es gibt sie wirklich. Er hat die Narbe, seit er ein Baby ist. Wie es dazu kam, weiß er aus seinen Akten. Erinnern kann er sich nicht. Aber das Problem ist nicht nur das frühe Kindheitstrauma, das ihn nachts einholt.

Denn wenn Peter mit einer Panikattacke aufwacht, eskaliert die Situation regelmäßig. In seiner Todesangst wählt er die Nummer des Rettungsdienstes. Er ruft die Polizei. Er ist aufgewühlt, gestresst, redet gehetzt, fühlt sich gehetzt. Vor allem fühlt er sich nicht verstanden. Und dann endet das Ganze meist so: Peter rastet aus.

Um die 10 000 Kinder im Jahr werden mit FASD geboren

Er wurde schon wegen Beamtenbeleidigung angezeigt, allerdings ohne ernsthafte Folgen. Alles wurde fallen gelassen. Denn Peter kann nichts für seine Ausraster. Sie sind Ausdruck der hirnorganischen Störung, mit der er geboren wurde: FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder). Die Fetale Alkoholspektrumstörung geht mit Defiziten in der sozial-emotionalen Entwicklung einher, was sich zum Beispiel an einer mangelnden Impulskontrolle und an der Schwierigkeit, die Folgen des eigenen Handelns einzuschätzen, zeigen kann. Sie ist die häufigste nicht genetische angeborene Behinderung.

Peter hat FASD, weil seine Mutter Alkohol trank, als sie mit ihm schwanger war. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schätzt, dass in Deutschland jedes Jahr rund 10 000 Kinder mit FASD geboren werden. Bei einem Teil haben die Mütter erst spät von ihrer Schwangerschaft erfahren. „Wer einen Kinderwunsch hat, sollte auf Alkohol verzichten“, betont die Pädiaterin Iris Kallenberg, die im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) des Stuttgarter Olgahospitals eine Sprechstunde zu FASD leitet. Alkohol sei zellschädigend. Es gebe „keine sichere Menge“, die man trinken könne.

Die Gefahr ist groß, kriminell und suchtkrank zu werden

Iris Kallenberg sieht in der Sprechstunde Babys und Kleinkinder, die sich nicht selbst regulieren können. Sie sieht normal intelligente Jungen, die auf eine Schule für Kinder mit geistiger Behinderung gehen müssen, weil ihr Sozialverhalten gestört ist. Ihr begegnen Kinder mit ausgeprägter Rechenschwäche, die mangels räumlicher Orientierung die Schultoilette nicht finden. Um die 100 Kinder mit der Diagnose FASD werden jedes Jahr im SPZ behandelt. Ein Teil wurde von der Neugeborenenintensivstation überwiesen, bei anderen wurde die Störung später festgestellt. FASD sei „eine Hypothek“, die die Betroffenen „ein Leben lang tragen“ müssten, betont der Ärztliche Direktor des SPZ, Andreas Oberle. Mit dem Alter stiegen die Herausforderungen. Die Gefahr, dissozial oder kriminell zu werden, sei bei Menschen mit FASD hoch, ebenso die Suchtgefahr.

Menschen mit FASD bräuchten ein externes Gehirn, so Elisabeth Kurz von Pro Kids. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Peter weiß um diese Gefahren. In seinen 31 Lebensjahren ist er noch nicht kriminell geworden. Er hat auch noch nie Alkohol getrunken. Er hat „einen Hass auf Alkohol“. Wenn er im Supermarkt an den Regalen mit Wein und Spirituosen vorbeikommt, würde er am liebsten seine langen, dünnen Arme ausfahren und die Flaschen auf den Boden fegen, sodass sie zerplatzen. Er findet, man sollte Mütter, die während der Schwangerschaft getrunken haben, wegen gefährlicher Körperverletzung bestrafen.

Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn seine Mutter enthaltsam geblieben wäre, als sie mit ihm schwanger war? Diese Frage quält den jungen Mann, dessen richtiger Vorname zu seinem Schutz in diesem Text geändert wurde. „Du bist an meinen Problemen schuld!“ Peter scheut sich nicht, seine Mutter direkt zu konfrontieren. Doch sie blockt jedes Mal ab. „Verpiss Dich doch, Du Rabenkind!“, habe sie ihn gerade erst angeschrien.

In der Schule war Peter immer Außenseiter

Wie seine fünf Geschwister kam Peter noch als Baby in ein Heim in Stuttgart, dann von einer Pflegefamilie in die nächste. Keine sei auf Dauer mit ihm zurechtgekommen. Eine Familie hat ihm einen wertschätzenden Brief zu seinem Lebensweg hinterlassen: der sei „mal krumm und dann mal eben, ab und zu total daneben“ und „im Kampf bergauf ganz steil“, schrieben ihm die Pflegeeltern. Letztlich landete er in einer Wohngruppe.

Auch in der Schule war es schwierig. Er sei immer Außenseiter geblieben. „Ich bin anders als die anderen, das hat sich immer mehr bemerkbar gemacht.“ In seiner Akte hat Peter gelesen, dass er Mitschüler gebissen haben soll. Erinnern kann er sich daran nicht. Er hat überhaupt nur wenige Kindheitserinnerungen. Überfordert fühlte er sich. Das weiß er. Alle konnten das Einmaleins, nur er nicht. Für die Lehrer sei früh klar gewesen: „Der will nicht, der ist faul.“ Für sie war er „schwer erziehbar“. Peter, der an diesem Vormittag reflektiert über sein Leben erzählt, wird heute oft für einen Studenten gehalten. Doch er hat keinen Schulabschluss.

Menschen mit FASD hätten häufig gute verbale Fähigkeiten und könnten sich gut selbst darstellen, heißt es bei dem Verein FASD-Deutschland. Das führe dazu, dass man sie überschätze. Und das ist auch Peters Problem. „Ich werde überschätzt“, sagt er immer wieder, während es nur so aus ihm heraussprudelt. Es ist ihm wichtig, seine Geschichte zu erzählen. Er will, dass mehr Menschen von der Störung erfahren, die selbst vielen Ärzten erschreckend wenig sage.

An Peter werden Erwartungen gestellt, die er nicht erfüllen kann

Peter hat oft Bauchschmerzen. Die Schmerzen machen ihm Angst, auch so ein Symptom. Man kennt ihn schon in der Notaufnahme. „Mir geht es schlecht, aber sie sehen kein Problem.“ Das seien „so Dinge“, die ihn „auf Hochtouren bringen“. Man behandele ihn wie einen normalen, gesunden Menschen, sagt Peter verzweifelt. Was eigentlich positiv klingt, wirkt sich für ihn negativ aus. Denn an „normale Menschen“ werden entsprechende Erwartungen gestellt. Peter kann diese nicht erfüllen.

Schon sein Alltag stellt ihn vor Herausforderungen. „Jeder Tag bedeutet für mich Stress“, erklärt er. Ihn strengen ganz normale Dinge an, über die andere gar nicht nachdenken müssen. Aufstehen, die Körperpflege, entscheiden, was man anziehen soll. Jeder Schritt setzt Peter unter Druck, weil ihm Handlungs- und Planungskompetenzen fehlen. Wenn sich der Druck entlädt, stößt er „unschuldige Menschen“ vor den Kopf. „Was gibt es zu glotzen“, schreit er dann vielleicht. Erst im Nachhinein merke er, was los ist.

Wenn Peter das Haus verlässt, setzt er sich Kopfhörer auf, um sich gegen Reize abzuschirmen. Er nutzt die Stadtbahn, obwohl ihm die Enge zusetzt. Er stellt sich stets an die Tür, um leicht wieder raus zu kommen. Sieht er eine Mutter mit Kinderwagen, die sich liebevoll um ihr Kind kümmert, rührt ihn das, versetzt ihm aber auch einen Stich. Er sehnt sich nach Liebe und nach Fürsorge.

Große Herausforderungen, aber ein liebevolles Umfeld kann viel bewirken

Immerhin, einen Freund hat er gefunden, sie lieben die gleiche Musik. Der Freund ist wie ein Fels. Er bleibt immer ganz ruhig. Da ist auch Peter gleich viel ruhiger. Sein Onkel ist eine weitere Vertrauensperson, die zu ihm hält. Der kann es nur nicht fassen, was für ein schlechtes Erinnerungsvermögen sein Neffe hat. „Aber das haben wir doch vor fünf Minuten ausgemacht“, sagt er dann. „Ja, aber es ist weg“, antwortet Peter ihm.

Menschen mit FASD bräuchten „ein externes Gehirn“, erklärt die Trauma- und Kindheitspädagogin Elisabeth Kurz von der Fachberatungsstelle Pro Kids der Stuttgarter Caritas, einer Anlaufstelle für FASD-Betroffene.

Arbeiten kann Peter nicht mehr, ein ausgelagerter Werkstattarbeitsplatz in der Gastronomie setzte ihn zu sehr unter Druck. Er geht zu einer Betroffenengruppe, die sich bei Pro Kids in der Schwabstraße trifft. Der Austausch tut ihm gut. Aber er weiß nun, dass andere „mehr Glück“ hatten als er. Eine andere Betroffene kommt vergleichsweise gut durchs Leben. Sie fühlte sich immer geliebt von ihrer Adoptivfamilie. Ein liebevolles Umfeld und stabile Bezugspersonen können viel Positives bewirken. Das ist die Erfahrung bei Pro Kids. „Man kann sehr viel richtig machen in der Kindheit“, sagt Elisabeth Kurz.

Professioneller Notfallkontakt für Menschen mit FASD wäre hilfreich

Im Umgang mit Menschen wie Peter empfiehlt die Fachberaterin, Ausraster auch mal Ausraster sein zu lassen. Sich nicht persönlich angegriffen zu fühlen und auch keine Entschuldigung zu erwarten. Die verlange man auch nicht von einem Rollstuhlfahrer, weil er die Treppe nicht hoch kommt. Stattdessen sollte man eine Beziehung anbieten und die Menschen „da abholen, wo sie sind“. Auch Peter glaubt, dass ihm ein „Dir geht es wohl gerade nicht gut“ helfen könnte, wieder runterzukommen. In der Fachberatungsstelle begegne man ihm mit großer Fürsorge. Dort sei er noch nie ausgerastet.

Dass er allein in einer Wohnung mit seiner geliebten Hündin leben kann, ist Peter wichtig. Eigentlich kriegt er das auch gut hin. Er liebt Ordnung. Aber wenn er überfordert ist vom Leben, sieht man das sofort auch seiner Wohnung an. „Dann liegt alles kreuz und quer.“ Zweimal die Woche kommt eine Alltagsbegleiterin für etwa eineinhalb Stunden bei ihm vorbei, um ihn zu unterstützen. Das sei aber zu wenig.

Es gibt Menschen in seinem Umfeld, die meinen, er wäre besser in einem Wohnheim oder in der Psychiatrie untergebracht als in der eigenen Wohnung. Peter wühlt das auf. Er glaubt, ihm fehlt nur jemand, den er im Notfall anrufen kann, vor allem am Wochenende. Bei Pro Kids fände man es sinnvoll, wenn es einen professionellen Notfallkontakt für Menschen mit FASD gäbe.

Dann könnte es auch bei Peter vielleicht anders laufen. Vor jedem Wochenende hat er Angst. Wird er mit Schmerzen in der Notaufnahme landen? Wird er mit Panik aufwachen? Wird ihn wieder niemand verstehen? Wird er jemanden beleidigen? Er will es nicht. Überhaupt nicht. Aber wenn er gestresst ist, kann er das nicht steuern.

Pro Kids und SPZ gehören zu Stuttgarter FASD-Netzwerk

Tipps
Der Verein FASD Deutschland hat Tipps zusammengestellt, wie man Menschen mit FASD begegnen kann. So sollte man zunächst Blickkontakt aufnehmen, auch Körperkontakt helfe, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Von Anweisungen, die sich an eine Gruppe richten, würden sich Menschen mit FASD oft nicht angesprochen fühlen, deshalb hilft die direkte Ansprache. Man solle nur eine Anweisung auf einmal geben und diese so konkret wie möglich formulieren. „Bei größeren Aufgaben erstellen Sie eine Liste mit den einzelnen Schritten, die abgehakt werden können“, so der Verein in einer Broschüre. Man müsse zudem immer damit rechnen, dass Anweisungen vergessen werden, freundliche Erinnerungen würden hier helfen. Schließlich der Appell: „Machen Sie sich selbst klar, dass Verhaltensauffälligkeiten keine Folgen von Erziehungsfehlern sind.“

Netzwerk
in Stuttgart gibt es seit November 2024 ein Netzwerk zu FASD, dem auch Pro Kids, das Sozialpädiatrische Zentrum des Klinikums Stuttgart und das Gesundheitsamt angehören. Es hat das Ziel, die Versorgungslage von Menschen mit FASD in Stuttgart zu verbessern. Die FASD-Beratung bei Pro Kids ist in der Schwabstraße 57 angesiedelt und unter Telefon 0711/23091-246 erreichbar.

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