Das Musikfest der Bachakademie öffnet dem Publikum in Stuttgart Augen und Ohren für besondere Orte der Stadt.  

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Wie oft sind wir beim Spazierengehen in der Hasenbergsteige schon an diesem geheimnisvollen langen Zaun vorbeigekommen! Talabwärts der wunderbare Blick hinab auf Stuttgart West und den ganzen Kessel, aber zum Hang hin irgendwie Hochsicherheitstrakt. Rund zwanzig Meter höher ein altes Gemäuer, das im Abendlicht ein bisschen an das Hotel aus Hitchcocks "Psycho" erinnert. Und ein paar Schritte weiter abwärts die natürlich felsenfest verschlossene Tür zu einem betonhaften Neubau. Das Firmenschild der EnBW ist zu finden, dazu ein Hinweis, dass es auf diesem Areal irgendwie um das Stuttgarter Trinkwasser geht. Doch nichts Genaues weiß man nicht.

 

Aufklärung beschert dann ausgerechnet das Stuttgarter Musikfest, das die Bachakademie in diesem Jahr unter das Motto "Wasser" gestellt hat - um als Sponsoren unter anderem den Versorgungskonzern EnBW und den Zweckverband Bodenseewasserversorgung mit ins Boot zu holen. So wird möglich, was unter alltäglichen Bedingungen eigentlich nie möglich sein kann: Der große Zaun und die schwere Eisentür an der Hasenbergsteige öffnen sich - und die Turbinenhalle des Trinkwasserhochbehälters Hasenberg öffnet sich einem neugierigen Konzertpublikum.

Ein Publikum, das sich vorab gut informiert hat und deshalb Pullover und Jacken dabei hat. Denn während man am Dienstagabend beim Anstieg durch die Villenstraße schnell ins Schwitzen gerät, herrschen im Innern des Bergs und im Dämmerlicht der Turbinenhalle frische zehn Grad. Still suchen sich die Gäste ihren Platz. Ja, dieser Ort schindet unmittelbar Eindruck - hier geht's um was, ganz offensichtlich. Drei, vier Stockwerke ist er hoch, rundum glatt betonverschalt.

Die Musik an ungewöhnlichen Stellen der Stadt

An den Seiten Rohre und Messuhren, eine Schaltwand mit blinkenden Lichtern, dazu große Kessel, in der Mitte ein wuchtiger Treppenaufgang. Und hinter der abschließenden Wand, die eben diese ganze Kühle abstrahlt, da erahnt man schon jene riesige mit zahllosen Säulen ausgestattete Halle (später wird man sie besichtigen dürfen), in der das gute, klare Bodenseewasser nach seiner Reise quer über die Alb eine Weile zwischenlagert, blauschwarzgrünlich schimmernd, um dann mit dem exakt passenden Druck in den Waschbecken und Kaffeeautomaten im Stuttgarter Westen zu landen.

Und was hat das alles mit Musik zu tun? Seitdem die Bachakademie vor zwei Jahren ihr spätsommerliches Musikfest neu sortiert hat, gehört es zum Konzept, die Musik auch an ungewöhnliche Orte der Stadt zu bringen, das Publikum so in Entdeckerlaune zu versetzen. Und die Expedition auf den Hasenberg ist umso einleuchtender, weil gleich der erste Ton an diesem Abend deutlich macht, welch ungewöhnliche Akustik in dieser Turbinenhalle herrscht. Keine Frage - dieses Konzert nimmt seinen frohen Verlauf in nichts weniger als einer weltlichen Kathedrale im sonst geheimen Innenleben eines Organismus namens Stadt.

Und die Möglichkeiten dieser Kathedrale nutzt das junge schwedische Ensemble mit dem herrlichen Namen "The Pearls before Swine Experience" (zu Deutsch etwa: die Perlen-vor-die-Säue-Erfahrung) genussvoll. Im ersten Stock der offenen Treppe haben sie sich postiert, über den Zuschauern. Aber sobald die ersten Töne erklingen, recken sich die Köpfe der Gäste hin und her: Woher noch kommt bloß die ganze Musik? Wo haben die Herrschaften überall ihre Lautsprecher aufgestellt?

Herrlich fleischig-saftig-sämig-organische Klänge

Nein, ein Lautsprecher ist nur am elektronischen Klavier von Marten Landström postiert, Flöte, Violine und Violoncello der Kollegen Hammarström, Kentros und Peterson dagegen erklingen pur, und der Rest ist einfach ein fantastischer Hall. Satt, klar, rein erklingt die Musik praktisch von überall her, als wenn man, um einen zugegeben etwas absurden Vergleich zu bemühen, gerade das Geld für die allerbeste Hi-Fi-Anlage der Welt ausgegeben hätte und nun nie wieder den "Aus"-Schalter drücken will.

Die Pearls sind eine ausgesprochen muntere Truppe, ganz der aktuellen Musik verschrieben. Sie lassen sich ihre Stücke immer eigens komponieren, einmal quer durch die aktuelle Szene. Einzige Bedingung: das Stück darf nicht wesentlich länger als fünf Minuten dauern, damit, wie der Chef George Kentros in Stuttgart erklärt, "das Publikum im Konzert genug Möglichkeiten zum Klatschen hat". Und von welchem Schlag diese Musik ist, macht die Aussage des auch für den Stuttgarter Auftritt engagierten US-Komponisten David Lang deutlich: "Wenn ein amerikanischer Komponist von heute besser über Klassik als über Pop Bescheid weiß, muss etwas schief gelaufen sein".

Langs eigenes jährliches New Yorker Musikfestival trägt übrigens den hübschen Titel "Bang on a Can" ("Hau auf den Putz"), und so geht es dann auch in der Stuttgarter Turbinenhalle zu: herrlich fleischig-saftig-sämig-organische Klänge, bauchzerwühlende Rhythmen, die unsere Ohren putzen wie die Scheuerseite vom Waschschwamm die alte fettige Pfanne. Und fast alle Stücke enden mit einer kleinen musikalischen Pointe, so dass das Publikum mit einem Glucksen aus seiner Erstarrung erwacht und die Musiker ihnen zugrinsen können wie junge Zauberkünstler nach einem besonders schrägen Trick. Toll.

Mal auf dem Theaterschiff, mal im Leuze

Es geht beim Stuttgarter Musikfest natürlich auch ganz anders, stiller, konzentrierter zu. Genau zwölf Stunden früher an diesem Tag, um sieben Uhr in der Frühe, versammeln sich sage und schreibe 150 Freunde guter Musik auf dem Theaterschiff am Cannstatter Neckarufer, um statt SWR eins, zwei oder drei eine Stunde lang den deutsch-lettischen Cellisten Ramín Jaffé zu hören. "Ich hab noch nie so früh am Tag Cello gespielt", gesteht der. Setzt sich auf der Bühne hin. Und sorgt gleich mit den ersten so berühmten Prelude-Tönen der Violoncello-G-Dur-Suite von Bach für ergriffen-feuchte Augen im Saal.

Auch für Jaffé sind Grenzen dafür da, überschritten zu werden. Das feine Stück namens "Die Tränen" des Gambenmeisters Monsieur de Sainte-Colombe aus dem 17. Jahrhundert lässt er nahtlos übergehen in das Klangbild "Nach dem Weinen" vom Georgier Gia Kantscheli aus unseren Tagen, in der am Ende auch die Stimme des Cellisten zum Einsatz kommt. Und endgültig aus der Reserve lockt Jaffé seine Zuhörer, als er zeigt, dass selbst Flamenco und Tango mit einem Cello klingen - und wie! Die Kunst ist in diesen Momenten tief im Bauch des Theaterschiffs zum Greifen nah. Und der Zuhörer schwört sich in diesem Augenblick, nie wieder irgendeinen Morgen seines Lebens mit schlechter Musik verkleben zu wollen.

Und noch einen ungewöhnlichen Konzertort gilt es an diesem langen Musikfest-Dienstag in Augenschein zu nehmen: Abends um zehn versammelt sich am Außenbecken des Mineralbads Leuze das Publikum, um zu Bach'schen Orchesterklängen aus dem Lautsprecher die Kunst der neun jungen Synchronschwimmerinnen vom Schwimmerbund Schwaben 1895 Stuttgart zu bewundern. Und wie diese Nixen da immer wieder komplett abtauchen, um dann tief aus dem Quell eine der ihren scheinbar schwerelos in die Luft zu heben und sanft wie eine Göttin wieder im Wasser entschweben zu lassen - das ist ebenso anmutig wie erfrischend. Sicher, auf die großen Konzerte in der trockenen, warmen Liederhalle werden wir auch in Zukunft nicht verzichten wollen. Aber solch Musikfest-"Wasser" macht auch saubereOhren.