Ein Thema mit enormem Spannungspotential ist Stuttgart 21 nach wie vor. Der Streit zwischen Gegnern und Befürwortern wird aber nicht mehr so emotional wie einst ausgetragen.

Stuttgart - Die Zeiten, in denen jeder zweite Bürger der Stadt Plaketten unterschiedlichster Couleur auf der Brust vor sich hergetragen hat, sind lange schon vorbei. Eine Abkratzprämie, um ungeliebte Aufkleber von Straßenlaternen und grauen Stromverteilerkästen entfernen zu lassen, muss auch nicht mehr ausgelobt werden. Und auch die abendliche Tröterei um Glockenschlag sieben, zu denen in fast in allen Himmelsrichtungen Stuttgarts der sogenannte Schwabenstreich ertönte, ist zwischenzeitlich fast überall verstummt. Der Graben zwischen Gegnern und Befürwortern des Bahnprojekts Stuttgart 21 ist zwar nach wie vor so breit wie tief. Der Streit zwischen den Lagern wird aber zumindest auf offener Straße nicht mehr so unversöhnlich und emotional geführt wie einst, als hunderttausend Projektgegner durch die Stadt marschierten und die Befürworter am Marktplatz große Kundgebungen hielten, eingeleitet von Fackelmärschen.

 

Ein gewichtiges Thema mit erheblichem Spannungspotenzial ist Stuttgart 21 freilich nach wie vor, was vor allem mit den weitverbreiteten Zweifeln an der Sinnhaftigkeit des Projekts zu tun hat. Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung lehnt Stuttgart 21 und seinen Tiefbahnhof nach wie vor ab, an dieser Haltung hat auch die Volksabstimmung vom 27. November nichts geändert. „Wir sind nach wie vor vollkommen dagegen. Stuttgart 21 ist ein Rückbau der Infrastruktur“, sagt etwa auch Axel Wieland vom Umweltverband BUND. Die einzige Chance, um die Situation zwischen den Lagern zu befrieden, sieht der Regionalvorsitzende in einer Kommunalpolitik, die das Interesse der Bürger und der Stadt aktiver vertritt. „Die Probleme werden mit dem Bauen erst beginnen. Da braucht es einen starken und selbstbewussten Oberbürgermeister, der sich mit breiter Brust hinstellt und für seine Stadt eintritt.“

OB Wolfgang Schuster sieht keine Spaltung der Stadt

Der amtierende OB Wolfgang Schuster, sieht das durchaus auch als seine Aufgabe, wenngleich er gewisse Ermüdungserscheinungen in Bezug auf Stuttgart 21 festgestellt hat. Er rede jeden Tag mit vielen Bürgern, so Schuster, was er dabei immer wieder höre: „Die Menschen sind nach der Volksabstimmung den Streit um den Bahnhof leid.“ Von einer Spaltung der Stadt zu sprechen, halte er zudem für nicht angemessen. „Dieser Begriff wird politisch motiviert benutzt“ so Schuster. Richtig sei, dass es Bürger gebe, die das Projekt befürworten und Bürger, die es ablehnen. Trotz dieser unterschiedlichen Meinung funktioniere das Miteinander in dieser Stadt aber hervorragend. So sei jeder vierte Stuttgarter im Ehrenamt aktiv, das sei mehr als je zuvor. Zudem habe Stuttgart im Vergleich aller deutschen Großstädte die höchste Zufriedenheitsquote, so Schuster. „Ist das ein Zeichen von Spaltung?“

Gangolf Stocker, einer der längsten Wegbegleiter des Protests, hat seine eigene Antwort auf diese Frage. Der SÖS-Stadtrat, der sich vor einiger Zeit aus dem Aktionsbündnis zurückgezogen hat, sieht keinerlei Versöhnung oder Entspannung in der Stadt. Nach wie vor herrsche eine Arroganz der Politik, nach wie vor würden die Bürger nicht ernst genommen, nach wie vor würde allen Argumenten mit Ignoranz begegnet, so Stocker. „Da hat sich gar nichts bewegt.“ Einen der Hauptgründe für die Wut über die Ohnmacht sieht er neben dem Schwarzen Donnerstag, an dem bei Protesten im Mittleren Schlossgarten mehr als hundert Menschen bei der Auseinandersetzung zwischen Polizei und Demonstranten verletzt wurden, in der Ablehnung des Bürgerentscheids im Dezember 2007 durch den Gemeinderat. „Das hat den Bürgern das Gefühl vermittelt: Wir gelten nichts“, glaubt Stocker.

Der Protest könnte noch lange anhalten

Dass der Protest gegen das Projekt noch lange weitergehen könnte und die Gräben damit bestehen bleiben, kann sich auch der Soziologe Dieter Rucht vorstellen, der als einer der führenden Experten im Bereich der Forschung über politische Bewegungen gilt. Dass eine ganze Stadt aufgewühlt, polarisiert und politisiert wurde, sei einzigartig, so Rucht. In diesem Maß habe das die Bundesrepublik noch nie erlebt, so lange habe noch kein Massenprotest in Deutschland angehalten. In verringertem Umfang könne das jahrelang weitergehen.

Wolfgang Schuster, der von den Projektgegnern niedergepfiffen wird, wo immer er öffentlich auftritt, will die letzten Monate seiner Amtszeit auch dafür nutzen, die Ereignisse wissenschaftlich aufzuarbeiten. Über die Ursachen, warum der Protest sich so verfestigt hat, sei viel diskutiert worden, so Schuster. Ihm sei nun eine objektive Aufarbeitung wichtig. Er will daher zusammen mit dem Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider ein Buch herausgeben, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse zahlreicher renommierter Autoren gesammelt werden. Auch das soll helfen, die Lager wieder enger zusammenzuführen. Eine der größten Aufgaben in den kommenden Jahren werde sein, so Schuster, auch das Engagement und die Kreativität der Projektgegner aufzugreifen. Mit der Reihe Rosenstein und dem Bürgerforum S 21 sei man auf einem guten Weg. „Vielleicht lässt sich ja im Laufe der Zeit der Dialog weiter ausbauen.“