Rundumschlag in der Wahlkampfphase: der Präsident der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart, Herbert Müller, hat die OB-Kandidaten scharf kritisiert – und fordert von ihnen ein Bekenntnis zur Wirtschaft in Stuttgart.

Regio Desk: Achim Wörner (wö)

Stuttgart - Herbert Müller, der Präsident der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart (IHK), ist ein eher zurückhaltender Mann, einer der leisen Töne. Die Auftritte und die Äußerungen der Bewerber um den Stuttgarter Oberbürgermeisterposten aber lassen Müller seine sonst übliche Zurückhaltung abstreifen. Im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung übt der Manager, der im Brotberuf bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young Verantwortung trägt, scharfe Kritik an allen Kandidaten – unabhängig von deren parteipolitischer Couleur.

 
Im Wahlkampf werde über viele Themen geredet, von der Bildung über den Feinstaub bis hin zu Kindertagesstätten. „Es wird konzeptionell aber nicht darüber nachgedacht, was man tun kann, damit sich die Wirtschaft gut weiterentwickelt“, befindet Müller. Aus seiner Sicht wären die Aspiranten auf den Chefsessel im Rathaus gut beraten, dies zu tun. „Einerseits wissen die Kandidaten, dass gute Schulen, Kindertagesstätten oder auch ein gutes kulturelles Angebot viel Geld kosten“, sagt der ehrenamtliche IHK-Chef: „Niemand aber redet darüber, dass wenn man solche durchaus sinnvollen Investitionen tätigen will, die Stadt entsprechende Einnahmen braucht. Und diese Einnahmen sind umso höher, je besser es der Wirtschaft geht.“ Die Politik sei gefordert, etwas dafür zu tun, „dass sich die Wirtschaft wohlfühlt in Stuttgart, dass keine Firmen abwandern, wie es zuletzt in etlichen Fällen geschehen ist. Und sie muss etwas dafür tun, dass sich auch neue Unternehmen ansiedeln, so Herbert Müller: „Stuttgart und die Region befinden sich in einem Wettbewerb der Standorte. München, Frankfurt, Düsseldorf entwickeln sich dynamisch. Ich würde nicht sagen, dass wir hinterherhinken – aber wir müssen aufpassen, dass wir dranbleiben.“

Das Thema Wirtschaft erscheint unterbelichtet

Alarm schlägt der Kammerpräsident, weil aus seiner Sicht alle OB-Bewerber das Thema unterbelichten – der CDU-Kandidat Sebastian Turner und der Grüne Fritz Kuhn, die von SPD ins Rennen geschickte Bettina Wilhelm ebenso wie der SÖS-Gänger Hannes Rockenbauch. „Nehmen Sie das Beispiel Stadtplanung“, sagt Müller: „Fritz Kuhn stört sich an der ,Baukultur‘, er spricht in der Stuttgarter Zeitung von öden immer gleichen Banken- und Bürogebäuden; Hannes Rockenbauch fordert ein Ende seelenloser Großprojekte, Sebastian Turner will urbane Lebensqualität sichern, und Bettina Wilhelm strebt immerhin einen ausgewogenen Mix aus Arbeiten und Wohnen an. Aber niemand sagt: die Stadt Stuttgart braucht dringend auch Gewerbeflächen, damit sich die Wirtschaft am Standort weiterentwickeln kann. Offenbar wird über diesen Aspekt nicht einmal nachgedacht. Das ist befremdlich.“

Die IHK-Oberen haben sich in den vergangenen Wochen ein genaues Bild von den Bewerbern gemacht: bei diversen Gesprächen im berühmten Weinberghäuschen, bei Podiumsdiskussionen und anhand öffentlicher Äußerungen. „Ich habe den Eindruck, dass die Kandidaten gehemmt sind, dass sie Furcht haben vor dem Wutbürger und deshalb nicht anecken wollen. Die Aussagen erscheinen mir alle abgeschliffen. Aber mit einer solchen Haltung kommen wir nicht weiter“, moniert Müller.

IHK-Präsident vermisst konkrete Konzepte

Vor allem vermisst der IHK-Präsident konkrete Konzepte. „Inhaltlich bleiben die Kandidaten bisher zu sehr an der Oberfläche“, lautet sein Urteil: „Nehmen wir den Verkehr: unbestritten ist die große Stauproblematik in Stuttgart und der Region. Da braucht es ein integriertes, ausgewogenes Konzept, bei dem es nicht nur darum gehen kann, die Autofahrer zu gängeln. Wir brauchen den Ausbau des ÖPNV, müssen Verkehre entzerren, brauchen ein besseres Parkraummanagement. Und wir müssen überlegen, wie wir das finanzieren wollen. Warum sagt keiner der Kandidaten, dass es ohne ein Mautsystem, das auch Großstädte mit einbezieht, künftig nicht gehen wird? Das wäre wenigstens einmal ein konstruktiver Debattenbeitrag.“

Aber auch auf anderen Feldern fordert die Industrie- und Handelskammer Klarheit. „Das Rumgedruckse bei Stuttgart 21 hilft überhaupt nicht weiter“, so Müller. „Das Volk hat entschieden, wir brauchen eine gute Verkehrsinfrastruktur. Und deshalb ist es entscheidend, dass die oder der künftige OB sich in positiver Weise mit dem Projekt auseinandersetzt. Und das schließt durchaus ein, die Interessen der Stadt gegenüber den anderen Projektpartnern wie etwa der Bahn deutlich zu machen.“

Kandidaten sollen sich zur Wirtschaft bekennen

Dringend neue Ansätze seien im Bereich der Wirtschaftsförderung notwendig. Und wichtig sei überdies, dass der neue Rathauschef bereit sei, in der Region eine Führungsrolle zu übernehmen. „Dies auch wegen des Eigeninteresses der Stadt, deren Fläche zu begrenzt ist“, so Müllers Analyse. „Es braucht eine Nord-Ost-Umfahrung, es braucht ein abgestimmtes Konzept für die Kindertagesstätten, damit der Nachwuchs entweder am Wohn- oder am Arbeitsort betreut werden kann. Und wir müssen viel stärker mit dem Pfund der Hochschulen werben. Wir wären froh, wenn der neue OB in die regionalen Angelegenheiten Schwung hineinbrächte. Aussagen dazu: Fehlanzeige.“

Das Gespräch ist eine regelrechte Brandrede geworden – verbunden mit dem Appell an die OB-Bewerber, ein Thema zu entdecken. „Wir haben klare Erwartungen: Die OB-Kandidaten müssen sich viel deutlicher als bisher zu Stuttgart und zur hiesigen Wirtschaft bekennen. Und sie müssen willens und in der Lage sein, bundesweit zu signalisieren, dass Stuttgart eine moderne, weltoffene Stadt ist, die als Wirtschafts- und Industriestandort attraktiv ist“, sagt Herbert Müller, um dann zu konstatieren: „Aber auch dazu haben wir bisher nichts gehört.“