Mit Beginn dieser Saison ist Dan Ettinger nur noch in Stuttgart Chefdirigent. Das könnte Musiker wie Publikum befeuern, aber das Orchester der Landeshauptstadt ist strukturell unterfinanziert und hängt organisatorisch zwischen Baum und Borke.

Stuttgart - Kunst ist ihrer Zeit immer voraus. Die an diesem Freitag beginnende Saison der Stuttgarter Philharmoniker ist lange schon geplant; als der Chefdirigent des Orchesters, Dan Ettinger, sie gemeinsam mit dem Intendanten Michael Stille und dem Dramaturgen Albrecht Dürr konzipierte, ahnte noch keiner, dass der Titel der größten Abonnementkonzertreihe 2016 etwas Doppeldeutiges haben würde. „Enthüllungen“ ist der neunteilige Zyklus überschrieben, in dem es, so Dürr, um „politische Skandale, aber auch um Momente der Erkenntnis“ gehen wird, außerdem aber auch um Geheimnisvolles und Rätselhaftes. Also um all das, was man seit einem in diesem Frühjahr entdeckten Finanzloch mit dem Klangkörper verbindet.

 

Dan Ettinger, ein sehr unmittelbar wirkender, auf direkte Kommunikation setzender Dirigent, hat seinen Vertrag im Juli auffällig früh um gleich fünf Jahre (also von 2018 auf 2023) verlängert. Zwar mag manchem die Tatsache rätselhaft erscheinen, dass sich der 45-jährige Israeli, obwohl er international ebenso umtriebig wie gefragt ist, für eine in seinem Beruf ungewöhnlich lange Zeit an die Stuttgarter Philharmoniker gebunden hat. Aber der Vertragsabschluss war auch als Statement gedacht: als deutliches Zeichen des Dirigenten, dass er zu seinem Orchester stehen, ihm Planungssicherheit geben will. Und dass er ihm eine gute Zukunft zutraut.

Hineingeschlittert in eine strukturelle Unterfinanzierung

Dieses Zeichen ist bitter nötig, denn die Philharmoniker befinden sich in einer finanziellen Schieflage, aus der leicht auch eine künstlerische werden könnte. Von einer auskömmlichen Finanzierung sind sie in eine strukturelle Unterfinanzierung hineingeschlittert. Viele Faktoren haben dies befördert. Die auffälligsten wurden Anfang dieses Jahres öffentlich: Seit 2014 haben die Ausgaben des Orchesters seine Einnahmen um etwa 360 000 Euro überstiegen. Gründe dafür fand der Verwaltungsrat der Philharmoniker bei den Reisekosten und bei der Verpflichtung großer Chöre, die das Budget schon wegen der anfallenden Übernachtungskosten über Gebühr belasteten – wobei mit „große Chöre“ vor allem der Philharmonische Chor Brünn gemeint ist, ein gutes Ensemble, dessen Engagement auch die Stadt befürwortete. Schließlich ist die mährische Metropole seit 1989 Stuttgarts Partnerstadt, und 2014, als man das 25-jährige Jubiläum dieser Verbindung feierte, forderte die Stadt auch ihre Kulturinstitutionen zu verstärkten deutsch-tschechischen Kooperationen auf. Das haben die Philharmoniker getan, allerdings ohne dass ihr Budget deshalb aufgestockt worden wäre.

Dieses Budget wird außerdem vom Personalamt der Stadt verwaltet, und es gehört zu den großen Problemen der Philharmoniker, dass sie ihre künstlerische Planung immer wieder mit unterschiedlichen bürokratischen Strukturen ihres Trägers synchronisieren müssen. Mit dem Ergebnis, dass ihre langfristige Planung zwischen Stadtkämmerei, Orchesterintendanz und dem zuständigen Kulturamt immer wieder in der Luft hängt. Welche Auswüchse das haben kann, zeigt eine kleine Farce am Rande: In diesem Sommer hieß es vom Orchester, dass man in der Saison 2016/17 leider auf Programmhefte verzichten müsse, weil es städischen Angestellten untersagt sei, im Foyer Kassengeschäfte zu tätigen. Absurdes Bürokraten-Theater. Immerhin hat sich mittlerweile ein Weg gefunden, die oft dramaturgisch klug konzipierten Konzertprogramme der Philharmoniker weiterhin durch gedruckte Konzerteinführungen zu unterfedern.

Reibungen zwischen Orchester, Stadtkämmerei und Kulturamt

Auch ansonsten ist der finanzielle und strukturelle Rahmen starr. Puffer, die sich früher aus Reserven des künstlerischen und aus Umschichtungen des Sachmittelbudgets ergaben, sind heute aufgebraucht oder bürokratisch ausgehebelt. Und Posten, die sich weit im Vorfeld nicht präzise erfassen lassen – wie etwa Tarifsteigerungen bei den Musikergehältern oder auch die Summe, die das Orchester in einer Saison für Vertretungen erkrankter Musiker aufwenden muss – drohen den Rahmen immer wieder zu sprengen. Hinzu kommt die profane Tatsache, dass die Stadtverwaltung seit Kurzem mit neuen Computerprogrammen arbeitet: Während der Intendant mit einem Vorlauf von etwa zwei Jahren nur grob überschlagen kann, was sein Orchester in einer Saison kosten wird, berechnen diese Programme nur noch exakt jene Kosten, die tatsächlich angefallen sind. Zwangsläufig entstehen so Inkongruenzen.

Mehr Flexibilität und künstlerische Handlungsfreiheit könnte man durch erhöhte Einnahmen erreichen, aber eine Verteuerung der Konzertkarten und Abonnements wagt das Orchester momentan nicht. Auch eine weitere Steigerung der Auslastung, die man seit dem Amtsantritt Michael Stilles 2001 von 62 auf etwa 80 Prozent erhöht hat, ist nicht vorstellbar. Was also tun – aktuell, mit einem Defizit von 360 000 Euro im Nacken? Diese Summe wird die Stadt übernehmen – alleine, also ohne die eigentlich staatsvertraglich abgesicherte Teilhabe des Landes, weil dessen Haltung zu dem vornehmlich städischen Orchester zuletzt ambivalent war (deshalb touren die Philharmoniker demnächst auch vermehrt in Baden-Württemberg, was im Nebeneffekt auch die bei weiteren Entfernungen erheblichen Reisekosten senkt). Womöglich spielt hier auch die Erinnerung an jene zwei (eigentlich schon bewilligten) Bläserstellen eine Rolle, deren Mitfinanzierung das Land um die Jahrtausendwende sechs Jahre lang von sich wies – bis 2002 der damalige Chefdirigent Jörg-Peter Weigle wütend den Bettel hinwarf.

Der Intendant bekommt einen Geschäftsführer

Jetzt muss gespart werden. Auswärtige Konzerte wurden aus dem Kalender gestrichen. Der Dramaturg Albrecht Dürr deutet an, dass man pro Saison eigentlich etwa 150 000 Euro mehr bräuchte, „damit das Orchester all das machen kann, was Dan Ettinger will“. Also auch größere Projekte: Chorsinfonisches, konzertante Opern. Da für die finanzielle Schieflage der Intendant verantwortlich gemacht wird, reduziert die Stadt dessen Position ab Anfang 2017 auf diejenige eines „künstlerischen Geschäftsführers“ und stellt ihm einen nur fürs Finanzielle zuständigen Kollegen an die Seite, an den Stille dreißig Prozent seines Gehalts abtreten muss – die restlichen Zusatzkosten deckt das Geld, das man durch eine vakante halbe Stelle im Orchester einspart. Angesichts dieser Breitseite müsste Michael Stille eigentlich gehen – frustriert auch deshalb, weil schließlich er es war, der die Verjüngung, den künstlerischen Aufschwung und die finanzielle Konsolidierung des Orchesters unter Gabriel Feltz (2004 bis 2013) begleitete und beförderte, sodass sich dieses gegenüber seinen renommierten lokalen Konkurrenten, damals also dem Radio-Sinfonieorchester und dem Staatsorchester Stuttgart, glänzend behaupten konnte. Stille hat auch das Engagement von Feltz’ Nachfolger Dan Ettinger maßgeblich betrieben.

Vor knapp zwei Jahrzehnten stand noch eine Fusion der Stuttgarter Philharmoniker mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen im Raum, ja es gab damals sogar die Idee einer Zusammenlegung mit dem Staatsorchester Stuttgart. Sie hat man abgewendet. Und mehr noch. „Auf Dauer“, hatte der Intendant schon bei Feltz’ Amtsantritt verkündet, „wollen wir uns auf einem vorderen Platz in der deutschen Orchesterlandschaft etablieren.“ Perspektivisch gesehen, gilt dies weiter, auch aus Sicht der Landeshauptstadt. Ebenso wie Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn („Die Stuttgarter Philharmoniker und Dan Ettinger sind ein Aushängeschild“) glaubt auch Michael Stille an die Kraft des Feuers, mit dem der schillernde neue Chefdirigent seit 2015 am Pult steht, und diese feste Überzeugung hat ihn dann wohl auch zum Bleiben bewogen. So wächst dem Blondschopf am Pult unweigerlich etwas Messianisches zu. Paradoxes – nämlich das Orchester durchstarten zu lassen, obwohl die Kämmerer seine Handbremse fest angezogen haben – kann ihm allerdings nicht gelingen.