Stuttgarter Psychologe gibt Tipps Überfordert von den Lockerungen - was tun?

Während die einen wieder draußen unterwegs sind, sind andere von den Lockerungen nach den Lockdowns komplett überfordert. Im Interview erklärt uns der Stuttgarter Psychologe Leon Schäfer warum. Foto: Leon Schäfer

Mit den Lockerungen hat sich das Leben in Stuttgart wieder normalisiert. Doch nicht jeder kommt mit der neuen Normalität gut klar. Der Stuttgarter Psychologe Leon Schäfer erklärt uns, wie man am besten mit einer möglichen Überforderung nach den Lockdowns umgeht. 

Stuttgart – Nachdem uns die Pandemie lange in unsere eigenen vier Wände verbannt hat, kehrt man in Stuttgart nach und nach zur Normalität zurück. Freunde treffen, Partys feiern, Essen gehen, ins Kino oder zum Sport – die Lockerungen nach den Lockdowns machen vieles wieder möglich und bringen uns unseren Alltag zurück. Und auch wenn es noch Einschränkungen gibt, ist in Stuttgart wieder deutlich mehr los. Menschenmassen statt Geisterstadt. Doch was tun, wenn einen diese neue Situation komplett überfordert und das Leben nach so langem Stillstand wieder richtig losgeht? Im Interview gibt uns der Stuttgarter Psychologe Leon Schäfer Antworten.

 

Es ist Sommer, seit mehreren Wochen gelten in Stuttgart die Corona-Lockerungen. In der Stadt ist wieder viel los. Vieles, was lange nicht ging, ist jetzt wieder möglich. Und während sich die einen total darüber freuen und viel unterwegs sind, sind andere mit den Lockerungen nach den Lockdowns komplett überfordert. Woran liegt das?

Wir fühlen uns sicher, wenn wir die Rahmenbedingungen kennen und wissen, welche Konsequenzen welche Verhaltensweisen haben. Bisher waren die Rahmenbedingungen: „Menschenansammlungen = Gefahr“. Dieses Denken hat sich über die letzten 18 Monate verfestigt und somit ist der Umgang damit „Menschen bzw. Menschenansammlungen meiden“ zur Normalität geworden. Jedenfalls für die meisten von uns.

Nun sind viele Menschen geimpft, die Inzidenzen sinken und erfreulicherweise müssen wesentlich weniger Kranke intensiv behandelt werden. Die Rahmenbedingungen ändern sich. Für die einen bedeutet das zurück zur Normalität. Alles wieder so, wie vor der Pandemie: Menschen treffen, Biergärten besuchen, Essen gehen, in der Stadt einkaufen oder ein Eis schlecken. Vor allem die Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben offensichtlich großen Nachholbedarf und wir sehen viele von ihnen am Marienplatz oder im Stadtpark. Was wir nämlich auch wissen: Es kann sich innerhalb kurzer Zeit wieder alles ändern. Die eine Gruppe nimmt also alles mit, was gerade geht. Die anderen reagieren auf diese Unsicherheit mit vermehrter Angst. Sie bleiben angesichts der vielen Menschen in der Stadt dann doch lieber zu Hause oder nutzen die Randzeiten. Für sie ist die neue Situation eine massive Überforderung oder sogar eine Bedrohung. Da gibt es ja noch die Delta-Variante und es sind viele noch nicht geimpft. Wie groß ist da das Risiko für mich?

Jeder von uns hat so etwas wie einen inneren Risikobewerter. Und der Hintergrund der Bewertungen funktioniert bei jedem Menschen anders. Wir bewerten Risiken aufgrund unserer Erfahrungen und dem, was wir wissen oder glauben zu wissen. Und das passiert oft extrem irrational. Manche fragen sich zum Beispiel, wenn sie in einen Flieger einsteigen, was da jetzt passieren kann. Das würden sie beim Einstieg in den Bus eher nicht fragen. Der hat aber eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit, dass die Fahrt für sie tödlich ausgehen kann als das Flugzeug. Was für den einen in seiner Welt an lebensgefährlich grenzt, kann für den anderen normal sein. Angst spielt dabei eine zentrale Rolle. Diejenigen, die sehr viel Angst haben, müssen erst wieder neue Routinen aufbauen für das neue Szenario. Und sie tun sich eher schwer mit der neuen Situation oder warten ab. Was ich beobachte ist aber auch, dass viele Ängstliche nach der zweiten Impfung wieder mutiger werden und die Überforderung bei ihnen langsam abnimmt.

Wie gehe ich mit einer möglichen Überforderung um?

Wichtig ist, dass ich mir der Überforderung bewusst bin. Dann kann ich nämlich was daran ändern. Das auf „die anderen“ zu schieben, führt dazu, dass ich mich dem ganzen hilflos ausgeliefert fühle. Es geht darum, mein Denken zu ändern, denn das bestimmt auch mein Handeln. Ich kann mich zum Beispiel fragen: Welches Risiko bin ich denn bereit einzugehen? Mir einfach einen Ruck geben und das, was ich am meisten vermisst habe, auch angehen. Wieder zum Sport gehen. Wenn es mir innen noch zu unsicher ist, dann gibt es außen auch Möglichkeiten zu einem Treffen. Mich mit meinen wichtigsten Freunden und Freundinnen treffen, und, wenn mir das noch zu viel ist, eben mit einer Person. Wichtig ist, dass ich diese Situationen nicht vermeide. Denn dann werden sie immer bedrohlicher.

Merken wir erst jetzt, ob und wie uns die Pandemie verändert hat?

Veränderung ist ja eher ein schleichender und auch unbewusster Prozess, wenn sie nicht aktiv herbeigeführt wird. Wie sehr wir uns verändert haben, können wir daran sehen, wie wohl oder unwohl wir uns heute mit bestimmten Situationen fühlen im Vergleich zu vor der Pandemie. Letzte Woche hat mir eine Freundin erzählt, dass sie bei einer Hochzeit eingeladen war und sie sich extrem unwohl gefühlt hat unter den vielen Menschen dort. Obwohl alle getestet waren und die meisten auch geimpft. Sie fand es doof, dass sie sich den ganzen Abend über gefragt hat: „Und was, wenn hier doch einer dabei ist, der die anderen ansteckt?“ Sie merkte selbst, dass sie das eigentlich nicht ist und dahin zurück möchte, wo sie vor 18 Monaten war. Hochzeiten und den Umgang mit Menschen genießen, die Situation eben nicht als bedrohlich zu erleben.

Natürlich gibt es aber auch viele, denen gar nicht bewusst ist, wie sehr sie sich in der Pandemie verändert haben. Die haben es sehr viel schwerer, aus ihrer neuen Komfortzone auszubrechen. Viele haben es sich nett eingerichtet in ihrer eigenen Welt und haben noch nicht herausgefunden, wie exklusiv diese eigentlich ist und wie wenig Platz neue Gewohnheiten oder Freundschaften darin haben.

Vor Corona herrschte an vielen Stellen „Fear of missing out“, viele Menschen waren im „Freizeitstress“ – wird das auch bald wieder unser Alltag sein oder haben wir gelernt, dass nicht immer und überall etwas gehen muss?

Diejenigen, die Angst davor haben, etwas zu verpassen, sind risikobereiter als die anderen. Sie werden auch schneller wieder zurück zu den alten Gewohnheiten finden. Und der „Lerneffekt“ wird da eher geringer sein in Richtung „lass doch mal eine Option aus“. Freiheit ist an sich ein hohes Gut für Menschen und wir wollen immer eine Wahl haben. Da sind natürlich die, die jede Wahl nutzen für Action und die anderen, die die Chance nach Corona nutzen, auch mal „nein“ zu sagen. Das werden aber wesentlich weniger sein als die, die in den Freizeitstress zurückfallen.

Von Null auf Hundert oder doch lieber Step by Step – welches ist der beste Weg zurück zur Normalität?

Der, der mir guttut. Diejenigen, bei denen es von Null auf 100 geht, sind im Rahmen des Möglichen schon oder wieder fast bei 100. Andere tun sich schwerer und brauchen einen „Stufenplan“. Für sie ist es schwieriger, in die neue Realität zu finden. Da braucht es Mut zum Risiko. Sie sollten kleine Schritte definieren und diese konsequent gehen. Falls sie merken, dass sie nicht weiterkommen, auf jeden Fall Hilfe suchen. Das können Freunde oder Freundinnen sein oder ein professioneller Helfer oder Therapeut. Ein größeres Ziel zu definieren, für das es sich lohnt, Schritt für Schritt ein Risiko einzugehen, hilft immer.

Unter vielen Menschen sein, irgendwann auch ohne Maske und Abstand – werden wir uns daran wieder schnell gewöhnen können?

Da ist für viele noch sehr viel Unsicherheit… die Virusvarianten, die Zahl der Geimpften. Das Virus wird ja nicht verschwinden. Wir werden lernen, damit zu leben. Es kommt darauf an, wie wir den Umgang mit dem Virus in der Zukunft angehen. Ich hoffe, dass uns das Virus nicht mehr lange in der Form tangiert, wie das in den letzten 18 Monaten der Fall war und wir irgendwann an dem Punkt sind, dass wir das Virus in unseren Alltag und unser Denken integriert haben. Wir gehen ja auch mit anderen Viren so um. Kaum einer geht in einen Club oder ein Restaurant und fragt sich, ob da jemand Masern- oder Grippeviren in sich trägt und wie da das Erkrankungsrisiko für mich ist – Ausnahmen, in denen es wichtig ist, sich diese Frage zu stellen, gibt es natürlich immer. Unser Gehirn ist sowieso so gestrickt, dass wir das mehr und mehr ausblenden. Es kann mit Dauerbedrohung nicht umgehen. Das sehen wir daran, dass wir und täglich allen möglichen Unsicherheiten und Gefahren aussetzen, ohne uns darüber bewusst zu sein. Die meisten von uns werden sich – wahrscheinlich sukzessive – aber dennoch zügig an weniger Abstand und maskenfreie Zeiten gewöhnen.

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