Jetzt feiert das Staatsschauspiel Stuttgart seine Premieren schon in Mannheim: Claudia Bauer beschert dem dortigen Nationaltheater einen zwielichtigen „Tartuffe“.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Zunächst mal die brennendste Frage: Warum zeigt das Staatstheater Stuttgart seine neueste Produktion nicht in Stuttgart, sondern in Mannheim? Das liegt an der Stuttgarter Baumisere. Wir erinnern uns: Als das hiesige Staatstheater zu Beginn des Jahres sein frisch renoviertes Schauspielhaus wieder bezog, stellte es fest, dass es darin vorn und hinten und oben und unten nicht funktionierte. Also zog man kurz darauf gleich wieder aus und um in die Spielstätte Nord, musste dafür aber am Spielplan noch mal kräftig herumdoktern. In einem Fall hat nun selbst das Herumdoktern nicht geholfen: Claudia Bauers Konzeption für Molières Komödie „Tartuffe“ war schon so weit gediehen, dass man sie ohne Guckkastenbühne in die Tonne hätte drücken müssen. Oder eben zur Abwechslung andernorts präsentieren.

 

Und so kommen die Stuttgarter nach Mannheim, denn die Kollegen vom Nationaltheater dort waren bereit, der Inszenierung Gastrecht zu gewähren (wovon sie ja auch spielplantechnisch etwas haben). Und vielleicht wird der „Tartuffe“ im Frühjahr 2013, wenn das Stuttgarter Schauspielhaus doch noch fertig renoviert ist, dorthin übernommen. Aber nur ganz vielleicht. Denn das setzte ja voraus, bei der Renovierung des Schauspielhauses unter Aufsicht des Finanzministeriums liefe plötzlich alles nach Plan. Hüstel, hüstel. Alles klar?

Der Haustaliban bekommt Tochter und Besitz

Im Grunde sind die Verhältnisse bei den Stuttgarter Großbauprojekten so klar wie in Molières Meisterwerk „Tartuffe“ – auf dem Papier. Wer die fünf Akte als Text studiert, hat von den ersten Sätzen an ein glasklares Bild: Da ist der wohlhabende Pariser Bürger Orgon, der sich aus purer Dummheit in die geistigen Fänge eines frommen Mannes begibt, eben jenes Tartuffe, ihn sogar ins Haus aufnimmt und überhaupt nicht bemerkt, so direkt am Busen einen Lügner und Heuchler zu nähren, der es selbst ganz real doch nur auf den Busen der Dame des Hauses abgesehen hat. Und obwohl Gattin und Sohn und Tochter und Dienstmädchen und Schwager die ganze Zeit rufen: „Orgon, Orgon, wach auf, nimm Vernunft an!“, vermacht Orgon seinem Haustaliban nicht nur Tochter und Besitz, sondern verrät ihm gar politisch verfängliche Geheimnisse. Summa summarum sind bei Molière somit auszumachen ein Böser, ein Dummer, ganz viele Gute sowie reichlich lustige Stellen und ein märchenhafter Schluss.

Klar: so einfach zeigen die Stuttgarter den „Tartuffe“ natürlich nicht; sie sind und bleiben auch im National- ein Staatstheater. Bei Claudia Bauer sind darum erstens die Guten überhaupt nicht gut; die ganze Verwandtschaft von Ehefrau bis hin zum Schwager entpuppt sich vielmehr als geld- und luxusgeile Bagage, die Andreas Auerbach (Bühne und Kostüme) zwecks weiterer Verdeutlichung des Gedankens in lächerliche Klamotten steckt. Zum zweiten ist im Stuttgarter „Tartuffe“ der Böse nicht böse, sondern ein wohlgestalteter und dynamischer Kerl, der mit seiner ultimativen Sinnsuche bei vollem Körpereinsatz die ganze feine Gesellschaft einerseits abstößt, aber doch andererseits auch wieder verwirrt und fasziniert.

Gewogen und zu schwer befunden

Und schlussendlich ist der Dumme hier auch gar nicht der Dumme. Vielmehr fragt Bauers Inszenierung zu allererst, warum sich ein derart wohlhabender Bürger wie der Monsieur Orgon überhaupt freiwillig in die Hände eines derartigen Radikalen wie dem Tartuffe begibt. Weswegen gleich zu Beginn des Abends Monsieur Orgon sozusagen als Mann von der Stuttgart-Mannheimer zwar im feinen Zwirn, aber doch mit rot geweinten Augen direkt von der letzten Bonusreise an die Bühnenrampe schwankt – ein frustrierter, vom Alltagskampf oder was auch immer leer gelutschter Endvierziger, der eigentlich alles hat, um gut situiert zu sein – Familie, Putzfrau, schicke Möbel, teure Kunst –, und der doch trotz alledem mitten im fiesesten Burn-out steckt und aktuell nur noch eine Hoffnung hat: nämlich seine frisch entdeckte Liebe zu jenem Tartuffe, der mit Wort und Tat und mit jedem seiner kompromisslos wuchernden Brusthaare wahnsinnig radikal dafür einsteht, dass da irgendwo ganz tief im Leben noch ein anderes Quäntchen Sinn steckt, das man nur ordentlich mit dem doppelt gehaltenen Hosengürtel aus den Gliedern peitschen muss.

Haben wir schon erwähnt, dass wir all die bis hier erwähnten Fragen von Claudia Bauer und die damit verbundene neue Perspektive auf das Stück sehr interessant finden? Doch, das sind sie. An den Fragen scheitert dieser Abend nicht. Wohl aber an der Durchführung. Denn die geht auf die Dauer nicht an, sondern auf die Nerven.

Unter der Last ihrer Thesen bricht die Inszenierung zusammen

Um die Verhältnisse nämlich unmissverständlich deutlich zu machen, sind nicht nur die Kostüme so, siehe oben, wie sie sind. Claudia Bauer lässt auch alle Akteure auf der nach unten, oben, links und rechts fest abgegrenzten, ansonsten leeren Bühne beständig im Borderline-Modus agieren. Es wird geschrien, gekreischt, geschliddert und gegrapscht, was Knochen und Stimmbänder nur gerade hergeben. Das führt bei einigen der Akteure, insbesondere der starken Sophie Basse als Gattin und der wie immer zum Vor-Lachen-unter-den-Klappstuhl-Rutschen-komischen Catherine Stoyan als Dienstmädchen zu Kabinettstücken exaltierter, aber reiner Schauspielkunst. Auch wird an Situationskomik nicht gespart. Aber es führt zu keinem Großen und Ganzen. Es verbleibt im Drolligen. Es verpufft.

Es verfehlt vor allem den Schlag in die Magengrube des Zuschauers, sinnbildlich gesprochen, weil an den zwei zentralen Punkten die Konstruktion schlicht nicht aufgeht: Boris Koneczny als Orgon wird an diesem Abend in seiner schlaffen, waidwunden Wehleidigkeit nie mehr als ein armer Wurm. Und Benjamin Grüter als Tartuffe kann seinem Predigeramt zwar zweifellos Esprit verleihen. Aber um uns seinen Rang als heimlicher Engel des Abends vor Augen zu führen, muss ihn die Theatermaschine zum Schluss dann doch mit weißen Flügeln und am Haken durch die Lüfte hieven. Spätestens hier bricht die Inszenierung unter der Last ihrer Thesen ächzend zusammen, und dies nicht nur sinnbildlich. Ein Staatstheater mehr hat sich am „Tartuffe“ versucht. Und es ward gewogen und für zu bleiern schwer befunden.

Großer Beifall des Publikums im Nationaltheater. Insofern hat sich der Ausflug gelohnt. Und wer weiß, ob diese Inszenierung jemals heimkehrt.