Mit einem ambitionierten Konzept will sich die neue Bibliothek im digitalen Zeitalter behaupten - ohne auf ihre traditionelle Rolle zu verzichten.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Wenn die Besucher sich vom 24.Oktober an in der neuen Stuttgarter Stadtbibliothek umschauen, werden sie im Erdgeschoss eines vergeblich suchen: Bücherreihen. Stattdessen wird ihr Blick auf einen der 16 in die Wand eingelassenen Bildschirme fallen - und erstmal hängen bleiben. Denn wo derzeit noch schwarze Kabel aus Wandnischen herabhängen, soll auf schicken Flatscreens digitale Kunst aufpoppen, sollen Netz- und Medienkünstler eine Plattform bekommen und experimentelle Formate der Literaturvermittlung präsentiert werden. Die "Galerie b" führt den Besuchern bei den ersten Schritten im Bücherkubus die neue Zeitrechnung vor Augen, die für die Stadtbücherei mit der Eröffnung des Domizils am Mailänder Platz beginnen wird.

 

Das Haus vollzieht mit dem Auszug aus dem Wilhelmspalais auch konzeptionell den Übergang ins digitale Zeitalter, ohne dabei seine traditionelle Rolle als Wissens- und Ideenspeicher aufzugeben: "Die neue Bibliothek positioniert sich zwischen Tradition und Innovation", so beschreibt Ingrid Bussmann, die Direktorin der Stuttgarter Stadtbibliothek, dieses Spannungsfeld.

Abgesehen von der digitalen Galerie materialisiert sich die Innovation für den Nutzer in einer neuen Datenbank, die es ihm erlaubt, sich durch achthundert Tageszeitungen in 25 Sprachen zu klicken. Oder in 140 mobilen Laptop-Stationen, die sich über das ganze Haus verteilen. Zusammen mit jeweils drei fest installierten PCs pro Ebene und zwölf Kurzzeit-Rechercheplätzen im Foyer hält der neue Büchertempel dreimal so viele Computerarbeitsplätze vor wie das Wilhelmspalais.

Bequem virtuell abtauchen

Visuell sollen aber - gemäß der Tradition - die Bücher das Innere des Kubus dominieren: "Wir wollten nicht, dass man überall nur noch Computerbildschirme sieht", argumentiert Bussmann. Die mobilen Rechner sind deshalb unauffällig in Bücherregale integriert; mit Hilfe seines Bibliotheksausweises kann der Nutzer ein Gerät entnehmen, sich damit an seinen Lieblingsplatz, sei es ein bequemer Lesesessel, sei es ein Arbeitstisch, zurückziehen und in virtuelle Welten abtauchen.

Mediale Hightech hält auch der "Showroom" im ersten Untergeschoss bereit: Der mit hochwertigen Computern ausgestattete Raum soll als "digitales Laboratorium" für Workshops, etwa zu neuartigen Informationstechnologien oder innovativen Computerspielen, wie auch für Expertenrunden genutzt werden. Mit der deutlich erweiterten Hardware-Ausstattung kann die Bibliothek einer der wichtigsten Aufgaben, die sie sich vorgenommen hat, nachkommen: die digitale Lesekompetenz ihrer Besucher zu stärken. Darunter versteht die Direktorin nicht nur den versierten Umgang mit Multimediageräten und dem Internet, sondern auch den kritischen Diskurs über die Netzkultur.

Die "Bibliothek 21" ist Wirklichkeit

Ingrid Bussmann und ihr Team - rund hundert Mitarbeiter werden am Mailänder Platz im Einsatz sein - haben eine ambitionierte Neukonzeption für ihr Haus erstellt und dabei die 1997 von Bussmanns Vorgängerin Hannelore Jouly erarbeiteten Planungen weiterentwickelt. Damals hatte die Stadt die Bücherei beauftragt, ein Konzept für eine neue Zentralbibliothek im Gebiet von Stuttgart 21 vorzulegen. Baubeginn war bekanntermaßen erst elf Jahre später. Vor vierzehn Jahren prägte Jouly das Schlagwort von der "Bibliothek 21" als multimedialem Lernort, der selbst gesteuertes Lernen unterstützt - in der Zwischenzeit ist ihre Vision in den öffentlichen Büchereien eine Selbstverständlichkeit geworden. Längst ist die Stuttgarter Bibliothek mit ihren vielfältigen Angeboten für Schüler, Auszubildende und Erwachsene zu einer unersetzlichen Bildungsstätte geworden und hat sich als zentraler Knotenpunkt im kulturellen Leben der Stadt etabliert.

Gleichwohl beginnt mit dem Umzug eine neue Ära für die Bibliothekare: Ihre angestammte Aufgabe als Bücherverwalter rückt immer mehr in den Hintergrund, sie verstehen sich im neuen Haus zunehmend als "Wissenskuratoren", die eine aktivere Rolle in der Kompetenzvermittlung übernehmen. So will die Bücherei in Zukunft eben nicht nur Wissensstoff in Form von Büchern, CDs, Filmen, Spielen oder Software sammeln und bereitstellen, sondern auch beim Einordnen, Bewerten und Strukturieren der Datenfluten helfen. Damit versteht sich die neue Bibliothek nicht mehr nur als Lernstätte, sondern zunehmend auch als Akteur der Aufklärung ihrer Nutzer. Die Bücherei als reine Ausleihstätte - das ist endgültig passé. Stattdessen, so wünscht es sich Ingrid Bussmann, soll sie in Zukunft ein Ort sein, der "die Sinne erweitert", der Überraschungen und Inspiration bereithält, der Begegnungen und Wissensaustausch ermöglicht. Ein Selbstverständnis, das Experten mit dem englischen Fachbegriff "expanded library" betiteln.

Vom Mediensupermarkt zum aktiven Wissensdienstleister

Was damit gemeint ist, veranschaulicht eine neues Element, das auf allen Etagen zu finden sein wird: das Studiolo. Der Begriff stamme aus der Renaissance und bezeichne einen "kleinen feinen Arbeitsplatz", erklärt Bussmann. In diesen Studierzonen, die sich optisch von der übrigen Möblierung absetzen, stellen die Bibliotheksmitarbeiter jeweils zu einem speziellen Schwerpunkt unterschiedliche Medien zusammen, um damit den Besucher zur ungeplanten Auseinandersetzung mit einem Thema einzuladen. "Daten und Datenfluten" etwa könnte laut Bussmann die Überschrift für ein solches Studiolo lauten.

Auch im sogenannten Spektrum drückt sich das neue Bewusstsein aus. Unter diesem Rubrum geben die Fachlektoren für ihr Gebiet Literaturempfehlungen. In der Pädagogik etwa wird sich Anna Wahlgrens Elternratgeber-Klassiker "Das Kinderbuch" genauso wie Jean-Jacques Rousseaus "Émile oder über die Erziehung" finden; bei den Freizeit-Sachbüchern stehen "Die Laufbibel" oder der Titel "Bastelideen rund ums Jahr" im Spektrum-Regal. Auf diese Weise wandelt sich die Bücherei vom Mediensupermarkt, der dem Kunden die Entscheidung überlässt, was er konsumiert, zum aktiven Wissensdienstleister, der Empfehlungen ausspricht, Orientierungshilfen gibt - und nicht zuletzt eine Haltung an den Tag legt. In der Kinderbibliothek kommt dieser Wandel in Gestalt eines einladenden Kinderzimmers daher: Dort können sich die Kleinen auf ein Bett kuscheln und in den Bücherregalen unter ausgewählten Titeln wie "Die kleine Raupe Nimmersatt" oder "Werkstatt Natur" ihren Lieblingsstoff auswählen. Und fürs gemeinsame Arbeiten stehen im neuen Haus neun Gruppenräume zur Verfügung, deutlich mehr als im alten.

Das Ziel: eine lustvolle Bibliothek

Ob als Begegnungsort für Lernbegierige, als Fundgrube für Bücherwürmer oder als urbaner Treffpunkt, der mit einem Literaturcafé im achten Stock und einer umwerfenden Aussicht von der Dachterrasse aufwartet: als realer, öffentlicher Ort wird sich die Bibliothek im Stuttgarter Stadtgefüge gegen die zunehmende Vorherrschaft der virtuellen Welt bestens behaupten. Am Mailänder Platz hat Umberto Ecos Idealvorstellung von einer "lustvollen Bibliothek, in die man gerne geht und die sich allmählich in eine große Freizeitmaschine verwandelt", eine Gestalt bekommen.

Futter fürs Hirn rund um die Uhr

Entschleunigung  Die Musikbibliothek ist im ersten, die Kinderbücherei im zweiten Stock untergebracht; darauf folgen die Sachliteraturebenen Leben, Wissen und Welt. Fremdsprachige und deutsche Belletristik sowie die Kunstbestände versammelt der Galeriesaal, der sich ab der fünften Ebene über dem „Herz“ erhebt. Das „Herz“ ist ein leerer, bücherfreier Raumwürfel, der der Entschleunigung dienen soll.

Vielfalt  Die Bücherei wird an sechs Tagen zwölf Stunden täglich geöffnet sein. Die „Bibliothek für Schlaflose“stellt außerhalb der Öffnungszeiten ein kleines Mediensortiment zur Ausleihe zur Verfügung.