Die Debatte über die Perspektiven der Stadt ist überfällig. Dabei darf Stuttgart 21 nicht ausgeblendet werden. Denn die Baustelle ist eine offene Wunde der Stadt, meint der Lokalchef Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Für solche Zufälle ist wohl die Redewendung „zwei Seiten einer Medaille“ erfunden worden. An diesem Dienstag will der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn endlich mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern über die Kulturmeile diskutieren. Stattfinden wird die Debatte im Wilhelmspalais – an jenem Ort also, der als künftiges Stadtmuseum wie kaum ein anderer die Brücke schlägt zwischen Vergangenem und Kommendem. Visionen können dort gesponnen und miteinander verknüpft werden. Über eine neue (und schnell realisierbare) Idee wie das jetzt vom Staatsministerium vorgestellte goldene Band des Bauingenieurs Werner Sobek wird ebenso geredet wie über den älteren (und schwer umsetzbaren) Plan vom Rückbau der B 14 samt Verbannung aller Autos. Die Zukunft könnte so schön sein – wenn sie nur endlich angepackt würde.

 

Einen Tag später wird in Berlin über die bittere Stuttgarter Realität verhandelt. Am Mittwoch tritt der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn zusammen. Dann werden die Kontrolleure des Staatskonzerns offiziell erfahren, was alle längst wissen: dass Stuttgart 21 noch einmal 1,1 Milliarden Euro teurer und mindestens drei weitere Jahre später fertig wird. Doch wann genau zwischen 2024 und dem Sankt-Nimmerleins-Tag der erste Zug durch den Stuttgarter Tiefbahnhof fahren wird, bleibt ebenso unbeantwortet wie die Frage, wann der erste Flieger vom Hauptstadtflughafen in Berlin startet. Und doch gibt es einen elementaren Unterschied zwischen den beiden peinlichsten Baustellen der Republik: Der Flughafen BER liegt am Stadtrand und beeinträchtigt das öffentliche Leben in Berlin kaum. In Stuttgart aber operiert die Bahn am offenen Herzen der Stadt. Dass dabei Komplikationen auftreten, obwohl der Chirurg stets behauptet hat, dass alles gut wird, bekommt der Patient zu spüren. Wie soll man bei solchen Schmerzen über eine gedeihliche Zukunft nachdenken?

Außerdem: Sehen Sie die zehn wichtigsten Fakten zum Bauprojekt Stuttgart 21 im Video.

Erstaunlich viel konstruktive Energie in Stuttgart

Dass trotz des Stuttgart-21-Debakels so viel konstruktive Energie durch Stuttgart strömt, ist eine der erstaunlichsten Wendungen dieser Geschichte. Regionalpräsident Thomas Bopp erhält viel Zustimmung für seinen Plan einer Internationalen Bauausstellung, die 2027 – hundert Jahre nach dem Bau der Weißenhofsiedlung – das neue Stuttgart zeigen soll. Privatinitiativen wie der Verein Aufbruch fordern weitgehende Neuordnungen nicht nur an der Kulturmeile, sondern im gesamten Zentrum. Die Landesregierung präsentiert einen Steg über die B 14 von Wolfgang Schusters Lieblingsarchitekten Werner Sobek als Beitrag zur Diskussion über die Zukunft ihrer Hauptstadt – und sogar Oberbürgermeister Fritz Kuhn, der bisher mehr durch biederes Verwalten denn durch zupackendes Gestalten aufgefallen ist, scheint zu bemerken, dass die Zeit reif für die Zukunft ist.

Wer weiß, was er will, kann auch der Bahn Dampf machen

Was fehlt, sind die Ziele. Wie stellen wir uns die Stadt der Zukunft vor? Sind überhaupt noch so breite Straßen notwendig? Wollen wir wirklich eine Innenstadt ohne Benziner und Diesel? Welche Kultur-, Sport- und Freizeiträume brauchen wir? Wie sehen die Plätze aus, auf denen wir uns wohl fühlen? Wie wollen wir eigentlich wohnen? Und wo?

Das sind elementare Fragen, die jetzt gestellt – und bald beantwortet – werden müssen. Gewünschter Nebeneffekt dieser Operation: Wer weiß, was er will, wird auch jenen mächtig Dampf machen, die ihn daran hindern, die eigenen Ziele zu erreichen. Auf Stuttgarter Verhältnisse übersetzt: Wenn Stadt, Land und Region endlich einen gemeinsamen (und erkennbaren) Plan für die Entwicklung Stuttgarts haben, der über die Versetzung von Gullideckeln an der B 14 hinaus geht, werden sie den Druck auf die Bahn – und die dahinter stehende Bundesregierung – noch einmal erhöhen können. Denn das größte Problem der Gegenwart darf nicht ausgeblendet werden, wenn die Zukunft gelingen soll.